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Levelling-up: Weiterhin türkiser Still- und Widerstand

LOSE SERIE: AUS DEM ARCHIV

Veröffentlicht am 3. Februar 2020

Morten Kjærum, der damalige Direktor der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), präsentierte am 17. Mai 2013 in Den Haag die Ergebnisse der EU-weiten Erhebung zur Diskriminierung von LSBT-Personen. Eine der Empfehlungen der Studie ist das Levelling-up.

Am 30. Jänner 2020 luden die beiden offen homosexuellen Abgeordneten EWA ERNST-DZIEDZIC (Grüne) und Nico Marchetti (ÖVP) VertreterInnen der LSBTIQ-Community zu einem Austausch- und Vernetzungstreffen ins Wiener Palais Epstein ein. Dabei ging es um die anstehenden Forderungen und ihre mögliche Umsetzung – auch abseits der konkreten diesbezüglichen Formulierungen im türkis-grünen Regierungsprogramm.

Die zahlreichen TeilnehmerInnen nutzten die Gelegenheit, viele konkrete Fragen zu stellen. Viele konkrete Antworten gab es indes nicht – dazu ist es aber offensichtlich viel zu früh, da die Regierungsarbeit ja erst begonnen hat. Insofern war es nur fair, dass Ernst-Dziedzic und Marchetti auch keine großen Hoffnungen machten. Und die allgemeinen Erwartungen in die neue Regierung scheinen andererseits ohnehin nicht sehr groß zu sein.

Einer der „großen Brocken“, um den im übrigen seit 15 Jahren gerungen wird, ist das Levelling-up im Gleichbehandlungsrecht. Drei diesbezügliche Versuche scheiterten bekanntlich in der ersten Hälfte der 2010er Jahre während der großen rot-schwarzen Koalition am erbitterten Widerstand der ÖVP, die sich einmal mehr zur Handlangerin des politischen Katholizismus machte (vgl. meinen Blog-Beitrag vom 12. Jänner 2020).

Marchetti konnte berichten, dass sich der neukonstituierte türkise Parlamentsklub mit dem Levelling-up noch nicht befasst habe. Marchetti hatte aber eine Stellungnahme der zuständigen ÖVP-Ministerin eingeholt, und in dieser werde auf die zweite europäische Erhebung über die Diskriminierung von LSBTI-Personen verwiesen. Man wolle die Ergebnisse dieser im Vorjahr im Auftrag der EU-Grundrechteagentur (FRA) durchgeführten Online-Befragung abwarten.

 

Kein Grund, noch länger zu warten

Das brachte mich etwas aus der Fassung. Da war es wieder: dieses typische Vertrösten, Hinhalten und Für-dumm-Verkaufen durch die ÖVP, das wir seit 40 Jahren kennen und das ich persönlich so satt habe. Ich verstehe ja nicht, wie es der ÖVP gelingen kann, immer alle anderen für Stillstand und mangelnde Reformfreudigkeit verantwortlich zu machen, während sie sich selbst keinen Millimeter bewegt.

Leider kann man Marchetti den Vorwurf nicht ersparen, sich nicht kundig und mit der Materie vertraut gemacht zu haben. Denn ich will ihm ja nicht unterstellen, bewusst und absichtlich bei dieser Publikumsverarschung mitzumachen. Jedenfalls sei der ÖVP ins Stammbuch geschrieben: Eine der zentralen Empfehlungen der ersten Erhebung über Diskriminierungserfahrungen von LSBT-Personen in der EU, die 2012 von der FRA durchgeführt wurde, ist ja gerade das Levelling-up. Die deutsche Fassung des Berichts steht hier zum Download bereit, die entsprechende Empfehlung findet sich darin auf S. 12 (vgl. Beitrag in den LN 3/2013, S. 34 f). [Über die Ergebnisse der besagten zweiten FRA-Studie berichtete ich später in einem Blog-Beitrag am 17. Mai 2020.]

Es ist völlig lächerlich, noch weitere Studien abwarten zu wollen. Die Sache ist klar. Es liegt längst alles auf dem Tisch. Die ÖVP soll endlich über ihren Schatten springen und erkennen, dass sie – wie in den letzten Jahrzehnten – die Durchsetzung voller Menschenrechte massiv behindert! Und Marchetti braucht uns keinen Sand in Augen zu streuen, er soll lieber parteiintern dafür sorgen, dass das Levelling-up zügig umgesetzt wird. Denn sonst wird das heuer wieder nichts mit einem eigenen Wagen der Jungen ÖVP auf der Regenbogenparade!

Die FRA-Empfehlung ist im übrigen nicht die einzige Aufforderung internationaler Organisationen an Österreich, das Levelling-up endlich umzusetzen. EU-Kommission und EU-Parlament treten sowieso dafür ein (siehe später), und der Europarat tut dies ebenfalls: Thomas Hammarberg, Menschenrechtskommissar des Europarats, empfiehlt in seinem Österreich-Bericht, „die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz vor Diskriminierung zusammenzufassen und effiziente, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen vorzusehen“ (Empfehlung Nr. 14). Hammarberg hatte vom 21. bis 25. Mai 2007 Österreich einen Besuch abgestattet, um sich einen Überblick über die Lage der Menschenrechte hierzulande zu verschaffen und im Anschluss daran einen Bericht darüber zu erstellen (vgl. LN 1/2008, S. 6 f).

Und die Vereinten Nationen haben Österreich bereits mindestens fünfmal aufgefordert, den Diskriminierungsschutz zu vereinheitlichen:

 

Auch UNO fordert Levelling-up

Zum ersten Mal geschah dies 2007 im Rahmen der vierten Berichterstattung Österreichs an den UNO-Menschenrechtsausschuss über die Fortschritte bei der Verwirklichung der Menschenrechte. Dazu sind alle Staaten gemäß Artikel 40 des UNO-Pakts über bürgerliche und politische Rechte regelmäßig verpflichtet. Eine solche Überprüfung geschieht zirka alle zehn Jahre. Details dazu finden sich in meinem Bericht in den LN 6/2007, S. 14 f.

Das zweite Mal geschah dies im Jänner 2011 im Rahmen der periodischen „universellen Menschenrechtsüberprüfung (UPR)“ Österreichs durch den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf. Darüber berichtete ich ausführlich in den LN 1/2011, S. 24.

Im November 2015 musste sich der UNO-Menschenrechtsrat bei der zweiten universellen Menschenrechtsprüfung Österreichs dann erneut mit dem Levelling-up befassen, da Österreich in den vier Jahren seit der ersten Überprüfung diesbezüglich nichts getan hatte. Diesmal hatte die HOSI Wien ihre Forderung nach dem Levelling-up über die Initiative Menschenrechte, einen Zusammenschluss von rund 270 österreichischen NGOs, eingebracht. In den zahlreichen Statements der UN-Mitgliedsstaaten wurde Österreich dann auch am häufigsten wegen dieser mangelnden Verankerung aller Diskriminierungsgründe im Gleichbehandlungsrecht kritisiert (vgl. LN 5/2015, S. 29). Hier der Bericht über die Überprüfung und die Liste der Empfehlungen (auf deutsch). Die nächste UPR Österreichs findet übrigens im November 2020 statt. Bis 26. März haben NGOs noch die Möglichkeit, dem Menschenrechtsrat ihre Eingaben zu übermitteln (Infos hier).

Fast zeitgleich stand im Oktober/November 2015 auch wieder die (nunmehr fünfte) Berichterstattung über die Fortschritte bei der Verwirklichung der Menschenrechte in Österreich auf der Tagesordnung des UNO-Ausschusses für Menschenrechte. Bereits im Dezember 2014 hatte die HOSI Wien erneut eine Stellungnahme in Sachen Levelling-up an den Ausschuss übermittelt (vgl. LN 1/2015, S. 20). Wenig überraschend empfahl auch diesmal der Ausschuss in seinen „abschließenden Bemerkungen“ ein solches Levelling-up (in den Punkten 11 und 12). Aufforderung Nummer 4 der UNO-Organe an Österreich, endlich einheitlichen Diskriminierungsschutz zu schaffen! Die nächste Berichterstattung Österreichs vor dem UNO-Ausschuss ist übrigens für November 2021 vorgesehen.

Der UNO-Menschenrechtspakt ist ja in dieser Frage recht eindeutig: Alle Menschen sind vor Diskriminierung in gleicher Weise zu schützen. Artikel 26 lautet wie folgt:

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. In dieser Hinsicht hat das Gesetz jede Diskriminierung zu verbieten und allen Menschen gegen jede Diskriminierung, wie insbesondere wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status, gleichen und wirksamen Schutz zu gewährleisten.

 

Im Rahmen des UN-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) ist Österreich ebenfalls verpflichtet, dem zuständigen Ausschuss regelmäßig über die Fortschritte bei der Umsetzung dieser Konvention Bericht zu erstatten. Die letzte (und bisher neunte) Überprüfung Österreichs fand im Juli 2019 statt. In seinen „Abschließenden Bemerkungen“ hat der Ausschuss ebenfalls ein Levelling-up empfohlen (letzter Satz im Punkt 11). Aufforderung Nr. 5.

Unter diesem Link können sämtliche Verfahrensschritte sowohl im Überprüfungsverfahren nach dem Menschenrechts- als auch nach dem Frauenrechtspakt verfolgt und alle relevanten Dokumente heruntergeladen werden: die Zeile „CCPR – International Covenant on Civil and Political Rights“ bzw. „CEDAW – Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women“ anklicken und dann die jeweiligen Berichtszyklen aufrufen.

 

Und da soll man an der EU nicht verzweifeln?

Die ÖVP verweist gerne darauf, dass die EU das Levelling-up nicht vorschreibe – was korrekt ist – bzw. dass die Beratungen einer auf EU-Ebene anhängigen Initiative noch nicht abgeschlossen seien. In der Tat wird auf EU-Ebene seit 2008 (!) über einen entsprechenden Kommissionsvorschlag beraten. Die ÖVP weiß allerdings ganz genau, dass dieser Vorschlag vermutlich nie von den Mitgliedsstaaten verabschiedet werden wird und Österreich dies durch sein Veto letztlich verhindern könnte. Daher sollte man auf dieses Hinhaltemanöver der ÖVP gar nicht erst eingehen.

Bekanntlich kann die EU seit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam (am 1. Mai 1999) auf Basis von Artikel 13 EG-Vertrag Maßnahmen gegen Diskriminierung verabschieden – allerdings müssen alle Mitgliedsstaaten zustimmen. Bei der nachfolgenden Revision des EU-Vertrags schon ein Jahr später (Vertrag von Nizza, Dezember 2000), bei der auch der Artikel 13 abgeändert wurde, haben nicht zuletzt NGOs und Zivilgesellschaft versucht, das Einstimmigkeitsprinzip im Rat für Maßnahmen basierend auf diesem Artikel zu Fall zu bringen – leider vergeblich (vgl. Chronik auf dieser Website). Das Europa-Parlament hat bei Beschlüssen über gesetzliche Maßnahmen auf Basis des Artikels 13 EGV übrigens kein Mitentscheidungsrecht, sondern darf bloß seine Meinung im Rahmen des sogenannten „Verfahrens der Konsultation“ kundtun. Der Rat kann diese berücksichtigen, darf sie aber auch völlig ignorieren und beschließen, was er will.

Im konsolidierten Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV – Vertrag von Lissabon 2007) hat der einschlägige Artikel nunmehr die Nummer 19.

Das Europäische Parlament hat jedenfalls am 20. Mai 2008 in einer Entschließung die EU-Kommission an ihre Verpflichtung erinnert, eine umfassende Richtlinie vorzulegen, um „die Hierarchie des Schutzes vor den unterschiedlichen Formen von Diskriminierung“ zu beseitigen (Randnummer 35).

Daraufhin hat die EU-Kommission bereits am 2. Juli 2008 ihren „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“ vorgelegt (Dokument KOM(2008) 426) – vgl. auch LN 4/2008, S. 24 ff).

Am 2. April 2009 verabschiedete das Europäische Parlament auf Grundlage des Berichts der niederländischen grünen Abgeordneten Kathalijne Buitenweg eine „legislative Entschließung“ zu diesem Vorschlag. Im wesentlichen unterstützte das EP damit den Kommissionsvorschlag vom 2. Juli 2008 und verbesserte ihn durch die Annahme diverser Abänderungsvorschläge (vgl. Bericht in den LN 3/2009, S. 19 ff).

Seither – also seit über einem Jahrzehnt! – beraten die VertreterInnen von 27 bzw. 28 Mitgliedsstaaten, in der Regel hoch- und höchstbezahlte BeamtInnen, über diesen Kommissionsvorschlag, benagen ausführlich jede Definition, jeden Begriff, jede Übersetzung, jeden Halbsatz, ja jedes Komma, aber in Wirklichkeit geht nichts weiter, weil einige Mitgliedsstaaten blockieren.

Da hilft auch nichts, wenn das Europäische Parlament Druck macht – wie etwa durch seine Entschließung vom 8. September 2015 zu der Lage der Grundrechte in der Europäischen Union (2013-2014) – hier Randnummer 44.

Bei Interesse kann man das alles im Detail nachlesen. Es ist ja nicht so, dass die EU da intransparent wäre – im Gegenteil: Minutiös wird die Chronologie dieses Versagens und Scheiterns anhand von Sitzungsprotokollen und Fortschrittsberichten laufend dokumentiert. Scrollt wirklich die ganze Liste bis ans Ende hinunter und lest euch die eine oder andere Beilage durch – um ein Gefühl für diesen Wahnsinn zu bekommen!

Die Arbeit an diesem Richtlinienvorschlag ist ein Lehrbeispiel dafür, wie Kleingeist und nationales Justament die gesamte EU in Verruf bringen – abstoßend, jämmerlich, Wasser auf den Mühlen der EU-GegnerInnen und extrem frustrierend für alle, die dieser EU noch die Stange halten.

Einer der Blockierer im Rat ist übrigens Deutschland. Während der schwarz-gelben Koalition aus CDU/CSU und FDP von 2009 bis 2013 war dies sogar explizite Regierungslinie, hatte doch die FDP das Veto gegen eine neue EU-Richtlinie gegen Diskriminierung ins gemeinsame Regierungsprogramm hineinreklamiert (siehe Bericht in den LN 1/2014, S. 31 ff). Apropos Liberale: Auch die NEOS sind übrigens gegen das Levelling-up. So sprach sich NEOS-Abgeordneter Nikolaus Scherak am 24. Mai 2017 im Menschenrechtsausschuss des Nationalrats gegen die Ausweitung des Schutzes vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung von der Arbeitswelt auf weitere Bereiche, wie den Zugang zu Waren und Dienstleistungen aus (vgl. Bericht in den LN 4/2017, S. 5 ff).

Es scheint sich jedenfalls zu bewahrheiten, was Odile Quintin, Generaldirektorin der Generaldirektion Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, bereits im November 2000 „prophezeite“. Als ich sie bei einer der halbjährlich in Brüssel stattfindenden Sitzungen zwischen EU-Kommission und Plattform europäischer Sozial-NGOs fragte, ob von Kommissionsseite beabsichtigt sei, weitere gesetzliche Initiativen zur Umsetzung von Artikel 13 zu setzen, um die nunmehr etablierte Hierarchie beim Schutz vor Diskriminierung zu beseitigen, verneinte sie das kategorisch: Die Verabschiedung der beiden Antidiskriminierungs-Richtlinien im Jahr 2000 sei so mühsam gewesen, dass von den Mitgliedsstaaten keine Unterstützung für weitere Projekte in naher Zukunft zu erwarten sei (vgl. auch die Chronik dazu: Eintrag vom 7. November 2000 sowie „nachträgliche Anmerkungen“).

Eine neue EU-Richtlinie ist übrigens insofern gar nicht mehr so relevant, als die allermeisten EU-Staaten das Levelling-up auf nationaler Ebene ohnehin umgesetzt haben. Schon im Oktober 2014 berichtete Morten Kjærum, der damalige Direktor der EU-Grundrechteagentur, in seiner Rede bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit der italienischen EU-Ratspräsidentschaft  – „Tackling sexual orientation and gender identity discrimination: next steps in EU and Member State policy making“ – in Brüssel, dass ein Levelling-up nur mehr in drei Mitgliedsstaaten fehlte. Für alle anderen Mitgliedsstaaten hätte also eine neue Richtlinie nur mehr die Funktion, die im Zuge des Levelling-up in den einzelnen Mitgliedsstaaten eingeführten Bestimmungen gegebenenfalls EU-weit zu vereinheitlichen.

Jedenfalls sollten wir in Österreich in dieser Frage die EU vergessen. Mit einer „neuen“ Richtlinie wird das nichts mehr – let’s face it!

 

Professionelles Lobbying wichtiger denn je

Besagtes Community-Treffen am 30. Jänner 2020 hat leider einmal mehr auch gezeigt, dass es in der österreichischen LSBT-Bewegung an einschlägiger Expertise mangelt. Politik ist eben kompliziert. Es braucht fundiertes Wissen, um da auf Dauer mitreden zu können – und um sich nicht von Parteien wie der ÖVP verarschen lassen zu müssen. Und dann könnte man ja vielleicht grundsätzlich wohlwollende offen schwule oder lesbische Abgeordnete entsprechend briefen, wenn diese keine Ahnung haben, weil sie sich nicht in die Materie eingearbeitet haben.