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Carl Værnet, der dänische SS-Arzt im KZ Buchenwald

Dass die Verbrechen des dänischen SS-Arztes Carl Værnet – er hatte im KZ Buchenwald medizinische Versuche an Homosexuellen durchgeführt, um sie von ihrer Homosexualität zu „heilen“ – im deutschsprachigen Raum (und darüber hinaus) nicht der Vergessenheit anheimfielen, ist nicht unwesentlich mir zu verdanken.

Erstmals schrieb ich über Værnet in der LN-Ausgabe 2/1988. Über Umwege, die nachstehend genauer geschildert werden, war dieser Artikel zehn Jahre später Auslöser dafür, dass Værnets KZ-Versuche und seine Flucht nach Südamerika (bei Kriegsende war er zwar sofort verhaftet worden, aber später gelang es ihm, sich nach Argentinien abzusetzen, wo er bis zu seinem Tod 1965 unbehelligt leben konnte) hohe Wellen in Dänemark schlug: Der britische Schwulenaktivist PETER TATCHELL verlangte im März 1998 von der dänischen Regierung Aufklärung über die näheren Umstände von Værnets Flucht und dessen weiteres Schicksal.

In der Folge machte sich der dänische Schwulenaktivist HANS CHRISTIAN THAYSEN daran, Nachkommen des SS-Arztes aufzuspüren, was ihm auch gelang. Thaysen richtete eine eigene Website ein, auf der er alle einschlägigen Informationen zusammenführte. In den LN 1/2000 widmete ich der Causa eine ausführliche Titelgeschichte (S. 33–42).

Hans Davidsen-Nielsen, Niels Høiby, Niels-Birger Danielsen, Jakob Rubin: „Carl Værnet – Der dänische SS-Arzt im KZ Buchenwald“.
Aus dem Dänischen von Kurt Krickler.
Mit einem Vorwort von Günter Grau und einem ergänzenden Kapitel über Eugen Steinach von Florian Mildenberger.
Edition Regenbogen, Wien 2004. 327 Seiten.

Die Angelegenheit hatte zudem das Interesse von vier dänischen Journalisten geweckt: Hans Davidsen-Nielsen, Niels Høiby, Niels-Birger Danielsen und Jakob Rubin. Sie begannen mit umfassenden Recherchen und konnten Archivmaterialien einsehen, die bis dahin nicht zugänglich gewesen waren. Sie führten darüber hinaus Interviews mit drei von Værnets Kindern und mit einer überlebenden Versuchsperson. Es gelang ihnen schließlich, eine umfassende Biographie des SS-Arztes zu verfassen. Sie verdient einmal mehr das Prädikat „Banalität des Bösen“. Wie viele andere Nazi-Ärzte war auch Værnet ein ganz gewöhnlicher „Biedermann“, der – von unstillbarem Sendungsbewusstsein getrieben und von seinen pseudowissenschaftlichen Ideen überzeugt – bereit war, alles zu tun, diesen zum Durchbruch zu verhelfen. Das Buch der vier Autoren (Værnet – den danske SS-læge i Buchenwald) erschien 2002 im Verlag JP Bøger, Viby/Kopenhagen, die 2. Auflage erschien 2003 im Verlag Gyldendal, Kopenhagen). Ich rezensierte es in den LN 3/2002 (S. 48).

Ich wollte das Buch unbedingt auch ins Deutsche übersetzen. Die HOSI Wien sicherte sich für ihren Verlag Edition Regenbogen in Hinblick auf ihre geplanten Aktivitäten zum 25-jährigen Bestehen sowie als Vorgriff auf die 60-Jahr-Feiern zur Befreiung vom Nationalsozialismus die deutschen Rechte an dem Buch.

Wie meist bei größeren Projekten der HOSI Wien kümmerte ich mich auch um Förderungen für dieses Buchprojekt. Die HOSI Wien erhielt schließlich finanzielle Unterstützung vom dänischen Kulturministerium (Kunstrådets fagudvalg for litteratur), vom Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus sowie vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Wien.

Am 19. Oktober 2004 (siehe Zeitreise) wurde die deutsche Übersetzung im Wiener HOSI-Zentrum präsentiert. Zuvor wurde es bereits in den LN 4/2004, S. 37, vorgestellt. Das Buch ist übrigens noch nicht vergriffen und kann bei der HOSI Wien oder in der Buchhandlung Löwenherz käuflich erworben werden.

Die vorhin erwähnten Umwege und den sich schließenden Kreis der Involvierung meiner Person und der HOSI Wien schildere ich in einem Nachwort in der deutschen Ausgabe des Buches (Achtung: Zeitpunkt ist 2004!):

 

Nachwort der HOSI Wien

Die Homosexuelle Initiative (HOSI) Wien kämpft seit 25 Jahren dafür, daß auch jene Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung vom Nazi-Regime verfolgt wurden, offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt werden. In diesem Vierteljahrhundert ist die Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit über dieses düstere Kapitel in der jüngsten Geschichte der Unterdrückung der Homosexualität stets ein wichtiger Schwerpunkt unserer Arbeit gewesen. So haben wir etwa im Dezember 1984 – gemeinsam mit anderen österreichischen Lesben- und Schwuleninitiativen – den weltweit ersten Gedenkstein für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus enthüllt, und zwar in der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Mauthausen.

Und 2001 haben wir im Rahmen von EuroPride das Ausstellungsprojekt „Aus dem Leben – Die nationalsozialistische Verfolgung der Homosexuellen in Wien 1938-45“ durchgeführt. Die gesamte Ausstellung ist übrigens im Internet unter www.ausdemleben.at anzusehen.

Bei unseren Bemühungen um Wiedergutmachung haben wir indes leider erst Teilerfolge erzielen können: Die Republik Österreich hat den homosexuellen Opfern bis heute nicht nur jegliche offizielle Entschuldigung, sondern auch eine Anerkennung im Opferfürsorgegesetz – und damit einen Rechtsanspruch auf Entschädigung – verwehrt. Nur in den Gesetzen über die Errichtung dreier Fonds zur Entschädigung von NS-Opfern wurde „sexuelle Orientierung“ als Verfolgungsgrund berücksichtigt, zum erstenmal 1995.

So lange dieser Opfergruppe von offizieller Seite die Anerkennung versagt bleibt, solange können und dürfen Lesben- und Schwulenorganisationen diese Angelegenheit nicht ad acta legen. Denn eine solche offizielle Haltung signalisiert, daß für gewisse Gruppen die systematische Verfolgung und KZ-Inhaftierung letztlich auch im nachhinein noch gutgeheißen wird. Zudem ist es unsere Verantwortung und Pflicht, die Erinnerung an die Schwulen- und Lesbenverfolgung in der NS-Zeit wachzuhalten. Daher lag es auch nahe, aus Anlaß unseres 25jährigen Bestehens in diesem Bereich durch eine entsprechende Aktivität wieder ein Zeichen zu setzen. Und so sicherten wir uns die Rechte für die deutsche Übersetzung des vorliegenden Buchs, für dessen Zustandekommen die HOSI Wien im übrigen indirekt auch ein wenig mitverantwortlich war:

Im sogenannten Bedenkjahr 1988 – damals vor 50 Jahren fand der Anschluß Österreichs ans Deutsche Reich statt – hat unsere Zeitschrift LAMBDA-Nachrichten (# 2/1988) dem Thema NS-Verfolgung Homosexueller einen Schwerpunkt gewidmet. Einer der Beiträge handelte über den dänischen SS-Arzt Carl Værnet, dessen KZ-Experimente an Homosexuellen – wie im vorliegenden Buch beschrieben wird – bereits seit dem Zusammenbruch des NS-Regimes ebenso bekannt waren wie einige Jahre später seine Flucht nach Südamerika. Der damalige Bericht in den LAMBDA-Nachrichten (LN) beruhte im wesentlichen auf einem 1985 in Dänemark erschienenen Buch über das Nazi-Fluchtnetz über Skandinavien nach Südamerika (Harly Foged und Henrik Krüger: Flugtrute Nord. Nazisternes hemmelige flugtnet gennem Danmark). Sowohl das Buch als auch der Artikel in den LN blieben damals jedoch ohne weitere Folgen. Weder die dänische Lesben- und Schwulenbewegung hatte die Causa 1985 aufgegriffen, als das Buch erschienen war, noch die Bewegung in den deutschsprachigen Ländern nach Erscheinen des LN-Artikels 1988 bzw. des von Günter Grau 1993 herausgegebenen Buches Homosexualität in der NS-Zeit, das unter Verweis auf die LAMBDA-Nachrichten auch über die Flucht Værnets nach Südamerika berichtet hat.

Erst als das Buch unter dem Titel Hidden Holocaust? 1995 in englischer Übersetzung erschien, sollte dies zu weiteren Aktivitäten führen. Wie im Kapitel 1 beschrieben, nahm sich der britische Aktivist PETER TATCHELL der Sache an. Durch seine Anfragen an die dänische Regierung löste er eine neuerliche Beschäftigung mit der Sache in der Öffentlichkeit und den Medien in Dänemark aus, was schließlich das Interesse der Autoren dieses Buches an der Person des dänischen SS-Arztes weckte. Mit ihren umfangreichen Recherchen haben sie schließlich den Fall Carl Værnet umfassend beleuchtet und die letzten Rätsel geklärt. Die HOSI Wien ist stolz darauf, dieses wichtige Buch in deutscher Sprache zugänglich zu machen. Nicht zuletzt schließt sich damit der Kreis unserer „Involvierung“, und so freuen wir uns in diesem Zusammenhang auch sehr darüber, daß Günter Grau ein Vorwort zu dieser deutschen Ausgabe verfaßt hat.