Seite wählen
  1. Diverse LN-Beiträge
  2. SS-Arzt Dr. Værnet – Über die Experimente an homosexuellen Häftlingen im KZ Buchenwald

SS-Arzt Dr. Værnet – Über die Experimente an homosexuellen Häftlingen im KZ Buchenwald

Veröffentlicht am 8. April 1988
Aus Anlass der 50. Wiederkehr des Anschlusses Österreichs an Nazi-Deutschland befasste sich die LN-Ausgabe 2/1988 ausführlich mit dem Thema Homosexuellenverfolgung im Dritten Reich (und danach), wobei der Schwerpunkt auf die Rolle von Ärzten und der Medizin gelegt wurde. Ich berichtete über den dänischen SS-Arzt Carl Værnet, der im KZ Buchenwald medizinische Versuche an Homosexuellen durchführte.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte und bearbeitete Übersetzung aus dem Buch „Flugtrute Nord. Nazisternes hemmelige flugtnet gennem Danmark“ von Harly Foged und Henrik Krüger (Verlag Bogan, Lynge 1985). Siehe auch „nachträgliche Anmerkungen“ am Ende des Textes.

Carl Værnet

Die gegen Dr. Værnet erhobenen Beschuldigungen sind derart ernster Natur, daß sich sogar der Gerichtshof der Alliierten in Nürnberg für sie interessiert. Und es ist gelinde gesagt beschämend, daß man diesem Gericht nun erklären muß, daß die Behörden Dr. Værnet die Möglichkeit eingeräumt haben, nach Schweden zu fliehen und von dort nach Brasilien zu entkommen.

Es ist daher von den Behörden eine offizielle Rechenschaft für diese eigentümliche Angelegenheit zu fordern; Rechenschaft, in der klar und ohne Umschweife offengelegt wird, wo die Verantwortung für diese Leichtsinnigkeit liegt, durch die Dr. Værnet sich vorläufig seiner Strafe entziehen konnte.

So kommentierte die Zeitung der Kommunistischen Partei Dänemarks Land og Folk am 22. 8. 1947 eine Meldung vom selben Tag in der offiziellen Wochenzeitschrift der dänischen Ärzteschaft, in der es hieß, daß ein dänischer Arzt, Dr. Carl P. Værnet, beschuldigt wird, im KZ Buchenwald Hormonversuche an Gefangenen durchgeführt zu haben.

Mehr erfuhr die staunende dänische Öffentlichkeit nicht, falls sie diese Affäre, die eigentlich nie Gelegenheit hatte, sich zu einer solchen zu entwickeln, überhaupt registriert hat.

 

Carl Peter Jensen wurde am 28. April 1903 in Astrup geboren. 1921 änderte er seinen Nachnamen von Jensen auf Værnet. Sein Medizinstudium beendete er mit dem Turnus in Kopenhagener Krankenhäusern, in den Jahren 1932–34 studierte er in Deutschland und Paris, in den Vorkriegsjahren etablierte er sich als einer der bekanntesten Modeärzte in der dänischen Hauptstadt. Aber schon im ersten Kriegsjahr verlor er viele seiner Patienten, als das Gerücht auftauchte, daß er Umgang mit seinem Kollegen Frits Clausen, dem Führer der dänischen Nazipartei, pflegte.

Schließlich verkaufte er seine Praxis an die deutsche Besatzungsmacht. Kurz darauf wurde sie von Widerstandskämpfern in die Luft gesprengt. Værnet zog mit seiner Frau und seinen vier Kindern nach Deutschland, um sein Können in den Dienst des Dritten Reichs zu stellen.

Niemand geringerem als SS-Reichsführer Heinrich Himmler gab er zu verstehen, daß er sich im Stande vermeinte, Homosexuelle durch operative Eingriffe und Hormonbehandlung zu Heterosexuellen zu machen. Himmler war von dieser absurden Ärztephantasie begeistert. Er sah hier eine Möglichkeit für eine „Endlösung des Homosexuellenproblems“. Die Anstellung des dänischen Arztes erfolgte direkt im Auftrag Himmlers. Sein Vertrag wurde von Gestapo-Chef Kaltenbrunner und SS-Reichsarzt Grawitz unterschrieben. Aus dem Anstellungsvertrag geht u. a. hervor, daß Værnet als Erfinder der „künstlichen Sexualdrüse“ in der „Deutschen Heilmittel GmbH“, die direkt der SS unterstand, angestellt wurde. Er erhielt den Rang eines SS-Sturmbannführers und Laboratorien in Prag. Auf Anordnung des SS-Reichsführers sollte ihm jede mögliche Unterstützung gewährt werden. Alle Patente in Zusammenhang mit Dr. Værnets Erfindungen sollten unter seinem Namen angemeldet werden. Lizenzen für seine Patente sollten jedoch der Deutschen Heilmittel für einen Zeitraum von 15 Jahren zur Verfügung gestellt werden.

 

Am 20. Juli 1944 gab Himmlers Büro der Leitung des KZ Weimar-Buchenwald die Anordnung, homosexuelle Gefangene für Værnets Experimente abzustellen. Am 28. Juli sollte damit begonnen werden, ein erwarteter Flugzeugangriff machte ihre Verschiebung notwendig. Kurz darauf war Værnet wieder in Buchenwald, diesmal stand seinen Experimenten nichts im Weg. Am 30. 10. 1944 teilte er dem SS-Reichsarzt Grawitz folgendes mit:

Die Operationen in Weimar-Buchenwald wurden am 13. 9. 44 an fünf homosexuellen Personen ausgeführt. Davon waren 2 kastriert, 1 sterilisiert und 2 nicht operiert. Die Absicht mit den Operationen: 1. zu untersuchen, ob homosexuelle Personen durch Implantation der „künstlichen männlichen Sexualdrüse“ in ihrer sexuellen Einstellung normalisiert werden können. 2. Die Erhaltungsdosis festzusetzen. 3. Eine Kontrollstandardisierung der „künstlichen männlichen Sexualdrüse“…

Die Untersuchungen sind bei weitem noch nicht beendet, aber: 1. Die vorläufigen Resultate zeigen, daß die Dosis, die als 3a bezeichnet ist, die Homosexualität in einen normalen Sexualtrieb verwandelt. Dosis 2a erweckt aufs neue den Sexualtrieb bei einer vor 7 Jahren kastrierten Person. Der neuerweckte Sexualtrieb ist ohne homosexuellen Einschlag. Dosis 1a gibt bei Kastraten ein Wiederauftreten der Erektion, aber keinen Sexualtrieb.

Værnet beobachtete seine Versuchspersonen jeden Tag über einen Zeitraum von eineinhalb Monaten und schrieb begeisterte Berichte über seine „Erfolge“ an seine Vorgesetzten. Über die Versuchsperson Nr. 1, den Gefangenen Nr. 21.686 Bernhard Steinhoff, einen 55jährigen Theologen, schrieb er einen Monat und zehn Tage nach dessen Kastration und der Drüseneinpflanzung:

Die Operationsnarbe ist verheilt, es gibt keine Abstoßung der implantierten künstlichen Drüse. Die Person fühlt sich besser und hat von Frauen geträumt…

…Schon wenige Tage nach der Einpflanzung ist der Schlaf besser. Er fühlte sich rasch müde und unaufgelegt, war deprimiert und dachte nur ans Lagerleben…

…Die Depressionen sind verschwunden – er freut sich auf die Zeit nach seiner Entlassung, macht Pläne für die Zukunft. Fühlt sich in jeder Hinsicht freier, Mithäftlinge haben ihm gesagt, er hätte sich verändert und sehe jünger und besser aus.

…Auch seine erotische Gedankenwelt hat sich verändert. Früher waren seine erotischen Gedanken und Träume ausschließlich auf junge Männer gerichtet, aber nun richten sie sich auf Frauen. Meint, daß das Lagerleben ungünstig ist – hat an die Frauen im Bordell gedacht, aber aus religiösen Gründen könne er dieses nicht besuchen.

Die Wirkungen unmittelbar nach der Operation und der Gabe der Dosis 3a:

16.9.44: Schmerzen. Fühlt sich schlecht.

17.9.44: Keine Schmerzen.

19.9.44: Erektion

19.9.44: Etwas stärkere Erektion.

20.9.44: Noch stärkere Erektion.

21.9.44: Wieder Erektion.

22.9.44: Erektion, aber schwach. Keine Schmerzen.

23.9.44: Erektion morgens und abends.

24.9.44: Dasselbe.*

 

Aber irgendwas lief bei den Experimenten schief, denn es kamen keine weiteren Berichte an seine Vorgesetzten bei der Deutschen Heilmittel.

Nach der Kapitulation im Mai 1945 war es dann mit seinen absurden Experimenten unwiderruflich vorbei. Værnet kam in britische Kriegsgefangenschaft und wurde mit vielen anderen Landesverrätern in der Alsgade Skole in Kopenhagen interniert. Dort fand eine Art Grobsortierung der Kriegsverbrecher statt. Niemand wußte allerdings etwas Konkretes über Værnet, außer daß er Arzt bei der Deutschen Heilmittel gewesen war.

Aber die völlige Unbemerktheit dauerte nur kurz für ihn. Schon am 29. Mai 1945 schickte der Vorstand der dänischen Ärztekammer eine Erklärung eines dänischen Polizeibeamten an das Justizministerium weiter. Der Beamte, der gemeinsam mit rund 2000 anderen dänischen Polizisten Häftling im KZ Buchenwald gewesen war, hatte Værnet in schwarzer SS-Uniform im Lager erkannt. Der Vorstand der Ärztevereinigung erhielt niemals eine Antwort auf seine Eingabe. Im Herbst 1945 übergaben die Briten Værnet den dänischen Behörden. Was diese weiter unternahmen, ist heute unbekannt. Am 2. Jänner 1946 erhielt die Ärztekammer einen Brief von Værnets Anwalt, in dem dieser den Austritt seines Mandanten aus der Kammer mitteilte. Ein Austritt, der keinen Einfluß auf das gegen Værnet angestrengte Ausschlußverfahren hätte, wie der Ärztekammervorstand antwortete. Dieser war der Meinung, Værnet sei immer noch im Gefängnis, aber dieser war wegen eines „Herzleidens“ ins Kommunehospital überstellt worden, hieß es. Kurz danach verschwand er in aller Heimlichkeit. Ärztekollegen erklärte er, daß sein Leiden nur in Schweden behandelt werden könnte. Irgendwie gelang es ihm, eine offizielle Erlaubnis zur Reise nach Schweden zu erhalten. Wer diese Erlaubnis gab, ist nicht bekannt.

Auf jeden Fall verabschiedete sich Carl Værnet damit für immer. In Schweden nahm er Kontakt zu einem Nazi-Fluchtnetz auf. Er entkam nach Argentinien – und nicht, wie Land og Folk schrieb, nach Brasilien. Kurze Zeit später folgte ihm seine Familie, nur sein ältester Sohn blieb in Dänemark.

Im April 1947 erhielt die dänische Ärztekammer eine Mitteilung des amerikanischen Chefs der „Allied War Crime Commission“ in Nürnberg, Brigadegeneral Telford Taylor, darüber, daß der dänische SS-Sturmbannführer an Häftlingen in Buchenwald Hormonexperimente durchgeführt hätte.

Über die Gesundheitsbehörden ließ die Ärztekammer diese Mitteilung dem dänischen Reichsstaatsanwalt zukommen. Von dort kam die lakonische Antwort, daß sich Værnet jüngst erhaltenen Informationen zufolge in Brasilien aufhielte, man aber seine genaue Adresse nicht wüßte.

Niemand fand es offenbar damals notwendig, genauere Nachforschungen anzustellen. Vielleicht hielt man es für das beste, die um sich greifende dänische Selbstgefälligkeit nicht zu stören.

 

Das letzte, was man von Værnet hörte, war in einem Leserbrief an die Kopenhagener Zeitung Berlingske Tidende (vom 19. 11. 1947). Darin wunderte sich ein in Argentinien lebender Däne, daß der Arzt Carl Værnet trotz der ihm zur Last gelegten Verbrechen eine Stelle innerhalb des Gesundheitswesens von Buenos Aires bekleidete.

 

Anmerkung/Fußnote:

* Da mir die Originaldokumente nicht vorlagen, handelt es sich hier um eine Rückübersetzung aus dem Dänischen, die sicher nicht mit dem Originalwortlaut ident ist.

 

Nachträgliche Anmerkungen: 

Später haben verschiedene Autoren aus diesen Originaldokumenten ausführlich zitiert, etwa Hans-Georg Stümke in Homosexuelle in Deutschland (Verlag C. H. Beck, München 1989). Zu diesen Quellen vgl. Fußnote 1 in meinem späteren umfangreichen Beitrag über Værnet in den LN 1/2000

Harly Foged und Henrik Krüger haben sich beim Geburtsjahr von Værnet um zehn Jahre geirrt. Er wurde nicht 1903, sondern 1893 geboren.