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Aus LAMBDA-Nachrichten NR. 1/2001

DDR-Vergangenheitsbewältigung: Von der Stasi bespitzelt

VON EDUARD STAPEL

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EDUARD STAPEL (1953–2017)
Abitur, 1971–1985 Studium der Journalistik und der Evangelischen Theologie sowie Zweites Theologisches Examen, doch nie Ordination zum Pastor aus „anti-homosexuellen“ Gründen, ab 1982 Gründer und Leiter zahlreicher Kirchlicher Arbeitskreise Homosexualität und der Schwulenbewegung in der DDR, 1985–1990 kirchlicher Angestellter für Schwulenarbeit, 1990 Mitbegründer des „Schwulenverbandes in der DDR/in Deutschland“ – heute „Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)“, seit 1990 in vielen Ehrenämtern wie z. B. 1997-2000 Landesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen in Sachsen-Anhalt; 1996 Bundesverdienstorden für den Aufbau der DDR-Schwulenbewegung.

Nachdem er 8.500 Seiten Stasi-Akten über sich und die DDR-Schwulenbewegung durchgeackert hatte, gab Eduard Stapel im Dezember 1999 ein 140 Seiten starkes Bändchen darüber heraus. Die DDR-Bewegung ist dank dieser Stasi-Aktivitäten die wohl bestdokumentierte der Welt. Von den 200 „Informellen Mitarbeitern“, die der Stasi die Informationen zugetragen haben, waren 150 selbst schwul und zum Teil in der Bewegung aktiv.

Aktendeckel des „Operativen Vorgangs“ „After Shave“, wie der Deckname für die jahrelange Überwachung Eduard Stapels durch die Stasi lautete...

...und Auszüge aus den Akten: Hinweise auf strafbare Handlungen, wie redaktionelle Mitarbeit am Buch „Rosa Liebe unterm roten Stern“, ... ständige postalische Verbindungen zum Mitautor (Krickler,) Kurt; ... ständige umfangreiche Korrespondenz mit: Ilga, Hosi

Anonym hergestelltes Plakat aus 1982 (aus dem Privatarchiv Eduard Stapels)

HOSI Wien/Auslandsgruppe – Gudrun Hauer/Kurt Krickler/Marek (=Andrzej Selerowicz)/Dieter Schmutzer: „Rosa Liebe unterm Roten Stern – Zur Lage der Lesben und Schwulen in Osteuropa“, FRÜHLINGS ERWACHEN 7 im Verlag Libertäre Assoziation e. V., Hamburg 1984. Ein Betrag zum „Internationalen lesbisch-schwulen Aktionsjahr“, ausgerufen von der International Gay Association.

Wenn schon die Deutschen nach ihrer Wiedervereinigung als erstes und – in diesem Umfang – bisher einziges Volk die Akten, die einer ihrer Geheimdienste, nämlich das DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS), über sie angefertigt hat, seit Januar 1992 einsehen können – freilich streng geregelt durch das „Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Stasi-Unterlagen-Gesetz – StUG)“ vom 20. 12. 1991 –, so lohnt es sich wohl auch, bei der Behörde des „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“, die eigens zu dem Zweck geschaffen wurde, diese Akteneinsicht gesetzestreu zu ermöglichen, Einschau in die Akten über die Schwulenbewegung in der DDR zu nehmen.

Gemäß dem Gesetz, das für die Akten-Lektüre unter anderem voraussetzt, daß man Spitzel-Opfer war, durfte der Autor dieser Zeilen bisher auch fast 40 der Bände lesen, die zu beinahe allen der schließlich 21 Arbeitskreise Homosexualität in den Evangelischen Kirchen der DDR von 1982 bis 1989 von etwa 50 hauptamtlichen und von rund 200 „Inoffiziellen MitarbeiterInnen (IM)“ – darunter ungefähr 150 selbst schwul – gefüllt wurden. Allein zum Arbeitskreis Homosexualität der Evangelischen Stadtmission Magdeburg, bei der ich damals für die DDR-weite Schwulenarbeit angestellt war, entstanden so viele Blätter, daß auf jeden Tag seiner Existenz eineinhalb Seiten kommen.

Außer hinsichtlich der Strafrechtsparagraphen 175 (bis 1968 Totalverbot) und 151 („Schutzalter“ 18) drangsalierte die Stasi – ebenso wie die anderen Sicherheitsorgane der DDR auch – Schwule, soweit bisher bekannt, so lange nicht, wie sie sich „ruhig“ verhielten und keine Forderungen nach eigenen Organisationen oder Publikationen oder gar nach Gleichberechtigung stellten. Nach Aktenlage führte man übrigens auch keine „rosa Listen“. Organisationsbestrebungen von Lesben und Schwulen in den 70ern in Ost-Berlin waren allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil sie sich notgedrungen auf dem von Partei und Staat beherrschten Feld abspielten und es naiv war, damit zu rechnen, daß die DDR-Machthaber zu Gesprächen über ihre anti-homosexuelle Politik und zu deren Veränderung bereit wären.

 

Kirchliche Schwulenarbeit

Die Zeitumstände Anfang der 80er Jahre und die „Sonderrolle“ der Kirchen als einzigem nicht vom Staat kontrolliertem Raum erlaubten es, daß in ihren evangelischen Gemeinden engagierte schwule Christen darauf kamen, die Lebenssituation von Schwulen verbessern zu wollen – und zwar mittels der damaligen Arbeitsweise ihrer Kirche in Form der „Offenen Arbeit“. Angeregt von der Theologie der Befreiung und von einer Theologie der Menschenrechte brachten sie ihre Kirche ab 1982 dazu, auch für Schwule eine „Politische Diakonin“ zu sein, wie sie es in Friedens-, Umwelt- oder Frauenrechts-Fragen in dieser Zeit ebenfalls wurde. Die DDR-Schwulenbewegung ist also als kirchliche Schwulenarbeit und nicht „unter dem Dach (der) Kirche“, wie heute immer wieder gedankenlos gesagt wird, entstanden und es bis zur Gründung des Schwulenverbandes in der DDR (SVD), der aus ihr hervorgegangen ist, im Februar 1990 geblieben.

Diese Vergangenheit ist in Deutschland kaum bekannt. Dabei hat die DDR-Schwulenbewegung den hauptsächlich bürgerrechtlichen Ansatz der jetzigen gesamtdeutschen Lesben- und Schwulenbewegung wesentlich geformt und nach der Vereinigung bestimmt und dafür ihr Programm und ihre letzte Struktur eingebracht. Ihr bürgerrechtlicher Ansatz ließ sie emanzipatorische, partizipatorische und Integrationsarbeit in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellen und machte sie so von Anfang an zu einem festen Bestandteil der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Auch deshalb geriet sie ins Visier des MfS, konnte sich aber wie die anderen Zweige politisch-diakonischer Kirchen-Arbeit dessen „Zersetzungs“-Bestrebungen erfolgreich erwehren. Ihre wesentlichen Erfolge waren die Streichung des § 151 DDR-StGB noch im Sommer 1989 und ihre Spätfolge, die Streichung des § 175 in Westdeutschland 1994, die Zulassung nichtkirchlicher Lesben- und Schwulen-Gruppen ab 1987 und die Gründung und die West-Ausdehnung des DDR-Schwulenverbandes in der Wende- und Vereinigungszeit.

Ihr umfangreiches schwulenpolitisches Engagement ließ bei den staatlichen Sicherheitsorganen und insbesondere beim MfS die Alarmglocken schrillen. Allerdings – wie im folgenden Fall – oft reichlich spät: Als der Stellvertreter des Stasi-Ministers Mielke, der damalige Generalleutnant Mittig, am 20. März 1985 die Aufgabe gestellt (hatte), den politischen Mißbrauch homosexueller Personen durch feindlich-negative Kräfte, wie die Stasi unsere Arbeit und uns Aktivisten nannte, nicht zuzulassen und die Bildung einer Homosexuellen-Organisation in der DDR zu verhindern, arbeiteten die ersten „Homosexuellen-Organisationen“, also Kirchliche Arbeitskreise Homosexualität, ja schon eine ganze Weile – und das auch noch nach einem einheitlichen Muster und DDR-weit – zusammen.

 

Zersetzungsstrategien

Die Aktivisten und die Gruppen in den verschiedenen Städten wurden mittels „operativer Personenkontrollen (OPK)“ und „operativer Vorgänge (OV)“ mit entsprechenden Analysen und Maßnahme-Plänen unter besondere Beobachtung und Behandlung gestellt, um sie zu „zersetzen“. Die Richtlinie Nr. 1/76 des MfS zur Bearbeitung operativer Vorgänge nennt bewährte anzuwendende Formen der Zersetzung:

systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben;

systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen;

Erzeugen von Mißtrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen;

Erzeugen bzw. Ausnutzen und Verstärken von Rivalitäten … durch zielgerichtete Ausnutzung persönlicher Schwächen einzelner Mitglieder;

Beschäftigung von Gruppen … mit ihren internen Problemen…

So bestand also eine der hauptsächlichen Aufgaben der Aktiven darin, gegen diese „Zersetzungs“-Maßnahmen anzugehen, ohne allerdings von ihrer Existenz zu wissen, beispielsweise immer wieder auftauchende gegenseitige Stasi-Verdächtigungen von Arbeitskreis-Teilnehmern zu entkräften – es konnte schließlich jeder Stasi-Mitarbeiter sein – und gegen solche „Verwirrungstaktiken“ von mitunter zehn, zwölf IM in einem einzigen Arbeitskreis den eingeschlagenen schwulenpolitischen Kurs zu halten.

Das war natürlich nicht einfach. Aber es blieb uns nichts anderes übrig. Denn ein Wesenszug kirchlicher Veranstaltungen war ihre Zugänglichkeit für jedermann – also auch für mutmaßliche Sicherheitsdienstler. Und: Wir wollten ja, daß „der Staat“ alles hörte, was wir als Schwule zu sagen hatten; wie sonst sollte er darauf kommen, daß seine Schwulenpolitik nur aus Diskriminierung bestand?! Freilich konnten wir nicht alle AK-Besucher mit diesen Argumenten gegen ihre Angst überzeugen. Dennoch ist es der Stasi nur in einer unserer Gruppen gelungen, ihn – nein, nicht zu zersetzen, sondern – zu spalten, und damit hatte sie Zersetzungs- und Spitzel-Aufwand in einer Gruppe mehr.

Und der war immens, wie die Akteninhalte zeigen: Berichte über unsere Veranstaltungen aller Art, also von Tagungen und politischen Diskussionen über Ausflüge bis hin zu Diskotheken – zur Kontrolle der IM oft auch mehrere Berichte von verschiedenen IM, die ja nicht voneinander wußten; Anwesenheitslisten, Programme und Absicherungsinstruktionen; Aktenvermerke über Äußerungen, die dem IM „auffielen“ oder dem Hauptamtlichen „relevant“ schienen; Vortrags-Mitschriften und -Mitschnitte; Situations-, Stimmungs- und Charakter-Einschätzungen von Gruppen und Einzelpersonen; vielerlei Informationen zu Personen – vom beruflichen Werdegang über familiäre Verhältnisse bis hin zur Beschreibung von auch intimen Kontakten zu anderen Personen; Instruktionen von Staatsfunktionären für und deren Zuarbeiten über Gespräche mit Aktivisten; Berichte über Kirchenleitungs-Sitzungen, wenn das Thema Homosexualität/Schwulenarbeit anstand; speziell schwulenpolitische Anforderungsprofile für Inoffizielle Mitarbeiter; Post-Kontroll-Ergebnisse und Telefon-Abhör-Protokolle; Liebesbriefe; Berichte über meine Klinik-Aufenthalte und Operationen sowie einen großen Teil meiner Krankenakten (der „Krankheitsverlauf [sollte] unter ständiger Kontrolle“ gehalten werden – ich war damals an Krebs erkrankt); literatur„wissenschaftliche“ Analysen von „staatsfeinlichen“ Texten, um sie bestimmten Autoren zuschreiben zu können; Auskünfte über ausländische Schwulenorganisationen und über deren Funktionäre; unsere Positionspapiere und MfS-Analysen dazu…

 

Keine schwulenpolitische Linie

Fragt man mit Blick auf diese gewaltigen Aktenberge nach der Schwulenpolitik der DDR und nach ihren Motiven, die mein vorrangiges Interesse bei der Lektüre waren, wird man nicht leicht fündig. Sie enthalten nämlich kaum direkte Äußerungen zur Homosexualität und erst recht keine ausführlichen Auseinandersetzungen mit der Thematik oder gar „Schlüsseltexte“. Nur an einer winzigen Stelle gibt es ein paar weitgehend richtige Fakten zur Sache selbst. Für einen Geheimdienst, von dem man meinen sollte, er wisse über die Sache, an der er arbeitet, Bescheid oder mache sich umgehend kundig, wahrlich ein Armutszeugnis! Man ist eher auf indirekte Bemerkungen angewiesen, die nun aber in Form von anti-homosexuellen „Wortfetzen“ die Aktenbände geradezu durchziehen.

Ebenso schwierig ist es, den Akten die Schwulenpolitik der DDR „ablesen“ zu wollen: Zwar votieren alle hauptamtlichen MfS-MitarbeiterInnen sehr einheitlich. Außerdem waren die Orientierungen (aus dem Ministerium, Anm. E. S.) Grundlage aller politisch-operativen Maßnahmen… und wurden … unter Beachtung der politischen Situation und der Orientierungen und Festlegungen der zuständigen zentralen Organe der DDR abgestimmt… Und umgekehrt fanden die MfS-Informationen Verwertung für die Orientierung der zuständigen staatlichen Stellen, was sich später im Umschwenken des Staates als taktisches Mittel – etwa mit der Zulassung nichtkirchlicher Gruppen ab 1987 oder mit der Streichung des besonderen „Schutzalters“-Paragraphen 151 – ja auch niederschlug.

Aber daß das MfS bei seinen Reaktionen auf die Schwulenbewegung Partei- und Staatspositionen zur Homosexualität und zu Schwulen vertrat und auch auf diesem „Problemfeld“ nur „Schild und Schwert der Partei“ war, geben die Akten nur ansatzweise her. Jedoch lädt schon die Funktionsweise des Staates DDR dazu ein, das Stasi-„Wissen“ über Homosexualität, Schwule und Schwulenbewegung sowie seine Schwulenpolitik auch der SED und den anderen Staatsorganen zuzuschreiben. Zumal die MfSler immer wieder auch auf Entscheidungen „von oben“ warteten.

Mit dem späteren Umschwenken sieht es so aus, als hätten die Verantwortlichen bei Partei und Staat und im MfS begriffen, daß ihr Bild vom politischen Mißbrauch homosexueller Personen Unsinn war: Sie lassen nicht nur außerkirchliche Gruppen zu, sondern unterstützen sogar die „unpolitischen“ kulturellen und sozialen Bestrebungen insbesondere ihrer Inoffiziellen Mitarbeiter in den kirchlichen Arbeitskreisen. Man hatte verstanden, daß man etwas für die schwulen Mitbürger tun müßte, wollte man nicht den „feindlich-negativen Kräften“ das Feld allein überlassen und Gefahr laufen, noch mehr unserer Forderungen nachgeben zu müssen.

An Gleichberechtigung und Gleichstellung Schwuler in der DDR war damit aber weiterhin nicht gedacht. Stattdessen blieb es beim Kampf gegen die nicht nur soziale und kulturelle, sondern vor allem ja politische kirchliche Schwulenarbeit: Zur Person Stapel wird seit 1984 … geprüft, ob er HS (Homosexuelle, Anm. E. S.) der DDR organisiert im Sinne von Zusammenschlüssen zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele … Die an dieser OPK umfangreichen realisierten operativ und operativ-technischen Maßnahmen, besonders dem abgestimmten Einsatz von IM der Abt. XX/2 (u. a. „staatsfeindliche Hetze“, E. S.), XX/4 (u. a. Evangelische Kirche), II (Spionageabwehr), VI (Paßkontrolle), XV (Auslandsaufklärung) unserer BV (Bezirksverwaltung), der KD (Kreisdienststellen) Magdeburg und Staßfurt, der HA (Hauptabteilung im MfS-Ministerium) XX/9 (u. a. „politische Untergrundtätigkeit“, „operative Vorgänge“ gegen „Exponenten politischer Untergrundtätigkeit“) und der Abt. XX der BV Halle, Leipzig sowie in Einzelfällen mit weiteren DE (Diensteinheiten) führten zum Ergebnis, daß … auf die Verletzung der entsprechenden Straftatbestände geschlossen werden kann.

 

Versuchte Kriminalisierung

Da wir Sexualverhalten und folglich auch Anti-Homosexualität vornehmlich als politische Phänomene behandelten, kamen wir der Stasi auf der Ebene vor allem des politischen Strafrechts sogar entgegen. Im Gegensatz zu ihren irrigen und gerade deshalb besonders gefährlichen Ansichten über Schwule, denen ebenso irrige Maßnahmen gegen uns folgten, wurden wir von der Stasi an dieser Stelle also in richtiger Weise ernst genommen. Demzufolge sollte der Einsatz der vielen IM, die sich heute – wenn sie es denn überhaupt tun – ja vor allem damit entschuldigen, „niemandem geschadet“ zu haben, auch der Kriminalisierung von Aktivisten dienen.

Und in der Tat wurde kräftigst kriminalisiert. Ohne die überaus zahlreichen Spitzel-Berichte der IM zu den verschiedenen Paragraphen aufzulisten, machen das schon die vom MfS anvisierten Paragraphen selbst klar, zu deren Inhalten viele IM in der Regel sogar in ganz besonderer Weise berichtet haben. Allein zu mir wurden folgende „Vergehen“ zusammengetragen, aber glücklicherweise nur unvollständig „offizialisiert“ und deshalb nicht angewendet:

  • 99: Landesverräterische Nachrichtenübermittlung (2 –12 Jahre Haft);
  • 100: Landesverräterische Agententätigkeit (1 – 10 Jahre Haft);
  • 106: Staatsfeindliche Hetze (1 – 8 Jahre Haft);
  • 213: Ungesetzlicher Grenzübertritt (Haft bis 2 Jahre, in schweren Fällen 1 – 8 Jahre);
  • 218: Zusammenschluß zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele (Rädelsführer 1 – 8 Jahre Haft);
  • 219: Ungesetzliche Verbindungsaufnahme (bis 5 Jahre Haft);
  • 220: Öffentliche Herabwürdigung (bis 3 Jahre Haft).

Außerdem wollte mir die Stasi mit Hilfe von IM auch mit dem Devisen-Gesetz (Haft bis 2 Jahre, in schweren Fällen bis 10 Jahre) und mit dem Ordnungswidrigkeiten-Gesetz, mit der Verordnung über Ordnungswidrigkeiten und mit der Veranstaltungsverordnung (jeweils Geldstrafen) beikommen. Und weil man sich nicht erklären konnte, wie meine ständigen DDR-weiten Reisen bezahlt wurden, vermutete man „Schwarzfahren“ und „Veruntreuung“. – Das alles dafür, daß man sich für die Gleichberechtigung von Schwulen einsetzte – ein in der DDR sehr gefährliches Engagement, wie die Akten uns zum Glück erst heute zeigen.

 

 

HOSI Wien und LN in den Stasi-Akten

 

Auch die HOSI Wien, die LAMBDA-Nachrichten und die ILGA fanden aufgrund ihrer Verbindungen zu Eduard Stapel und anderen AktivistInnen und Gruppen in der DDR Eingang in die Stasi-Überwachungsakten – die LN haben darüber bereits in der Ausgabe 1/1994, S. 61 f, berichtet und aus den relevanten Akten zitiert.

Die HOSI Wien hatte für die ILGA von 1982 bis 1990 den sogenannten Eastern European Information Pool (EEIP) betreut und dadurch über privilegierte Kontakte zu AktivistInnen und Gruppen in den damaligen Ostblockländern verfügt.

Diese Arbeit schlug sich auch publizistisch nieder: Jährlich verfaßte der EEIP für die ILGA einen eigenen Bericht über seine Arbeit und mit Nachrichten und Neuigkeiten aus diesen Ländern.

1984 gab die HOSI Wien ihr erstes Buch heraus: Rosa Liebe unterm roten Stern. Zur Lage der Lesben und Schwulen in Osteuropa (Frühlings Erwachen # 7 im Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg). Zur Recherche für das Buch traf Ko-Herausgeber Kurt Krickler im Juli 1984 Eduard Stapel zu einem zweitägigen konspirativen Treffen in Prag, das dem dortigen Geheimdienst auch nicht entging. Stapel wurde später verdächtigt, am Buch redaktionell mitgearbeitet zu haben (siehe Faksimile oben); eine Dresdner Literaturwissenschaftlerin wurde von der Stasi extra bemüht, den DDR-Teil daraufhin zu untersuchen, und diese schrieb die Verfasserschaft des DDR-Teils – zu Unrecht – Stapel zu.

Natürlich profitierten auch die LAMBDA-Nachrichten von der EEIP-Arbeit und den Kontakten im Osten. Fast regelmäßig berichteten die LN auch über die DDR-Bewegung: # 2–3/1983, S. 32 ff, # 4/1983, S. 27 f, # 1/1984, S. 32 f, # 3/1984, S. 40, # 4/1984, S. 30 f, #1/1985, S. 39 f, # 3/1985, S. 31 ff, # 3/1987, S. 20 ff, 4/1987, S. 34 ff, # 3/1988, S. 39 f, # 2/1989, S. 33 f, 1/1990, S. 52, # 3/1990, S. 56 ff, und 4/1990, S. 60 ff.

Ein von Eduard Stapel gezeichneter Beitrag erschien in den LN 4/1987, S. 39 ff.

 

(Dieser Beitrag erschien in den LAMBDA-Nachrichten, 1/2001, S. 31 ff).

 

Nachträgliche Anmerkung:

In den LN 4/2017 verfasste ich einen Nachruf auf Eduard Stapel.