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KZ-Experimente an Schwulen: Schicksal des SS-Arztes Carl Værnet geklärt

Veröffentlicht am 18. Januar 2000
Der dänische SS-Arzt Carl Værnet führte im KZ-Buchenwald medizinische Experimente an homosexuellen Häftlingen durch. Nach Kriegsende gelang ihm die Flucht nach Argentinien. 1999 schlug die Affäre hohe Wellen in Dänemark. Journalisten begannen in den Archiven zu stöbern. Ich fasste in den LN 1/2000 den Stand des Wissens zusammen. Zwei Jahre später erschien ein Buch über den Fall, das ich 2004 ins Deutsche übersetzte.

Carl Værnet

Dank Internet ist es nun gelungen, das weitere Schicksal des dänischen SS-Arztes Carl Værnet zu eruieren, der im KZ Buchenwald medizinische Experimente an Homosexuellen vornahm und sich nach dem Krieg gerechter Strafe durch Flucht nach Südamerika entzog. Der dänische Schwulenaktivist HANS CHRISTIAN THAYSEN hat sich im Internet auf die Suche gemacht und ist dabei auf einen Enkel des KZ-Arztes in Argentinien gestoßen. Dieser berichtete, daß sein Großvater 1965 verstorben ist.

Die neuerliche Beschäftigung mit der Causa Værnet und seinen Hintergründen rief in Dänemark in der zweiten Hälfte des Vorjahres großes öffentliches und mediales Interesse hervor. Durch die Nachforschungen wurde indes auch wieder in alten dänischen Wunden aus der Besatzungszeit und danach gerührt. Im Dezember 1999 wurde im Zuge dieser Diskussion bekannt, daß auch der Vater des amtierenden Ministerpräsidenten ab 1941 Mitglied der Nazi-Partei war.

Der Fall Værnet muß zudem im Kontext mit anderen dunklen Kapiteln der jüngsten Vergangenheit betrachtet werden: den Massenkastrationen und Massen-Lobotomie-Operationen, die in Dänemark und in den anderen skandinavischen Ländern bis in die 70er und 80er Jahre durchgeführt wurden.

Langjährige LN-LeserInnen werden sich vielleicht noch erinnern: In unserer Ausgabe 2/1988 beschäftigten wir uns aus Anlaß des Bedenkjahres 1988 – der Anschluß Österreichs an Nazi-Deutschland jährte sich zum 50. Mal – ausführlich mit dem Thema Homosexuellenverfolgung im Dritten Reich (und danach), wobei wir den Schwerpunkt auf die Rolle legten, die Ärzte und die Medizin dabei spielten. In einem der Beiträge (S. 53–55) berichteten wir über den dänischen SS-Arzt Carl Værnet, der im KZ Buchenwald Homosexuelle durch Implantierung der von ihm entwickelten „künstlichen männlichen Sexualdrüse“ zu Heterosexuellen machen wollte. Diese Experimente des „dänischen Mengele“, wie Værnet später auch bezeichnet wurde, waren seit langem bekannt und wohldokumentiert.1

 

Værnet, der Hormonforscher

Værnet wurde am 28. April 1893 in Astrup, einem Dorf in der Nähe von Århus, als Carl Peter Jensen geboren. 1921 änderte er seinen Allerweltsnamen offiziell auf den nicht gebräuchlichen Namen Værnet, was auch soviel wie „die Wehr“, „der Schutz“ bedeutet. 1920 heiratete er Edith Frida Hammershøj, mit der er drei Kinder hatte. Von seinem ältesten, im selben Jahr geborenen Sohn Kjeld wird später noch die Rede sein. 1923 schloß Carl Værnet sein Medizinstudium ab. Er machte seinen Turnus in Kopenhagener Krankenhäusern und eröffnete eine eigene Praxis in der Hauptstadt. Später verließ er seine erste Frau und heiratete 1927 ein zweites Mal. Dieser Ehe entstammten weitere vier Kinder. In den Jahren 1932–34 absolvierte er Studienaufenthalte in Berlin, Gießen, Wien, Göttingen und Paris.

1932 begann er auch mit seinen endokrinologischen Forschungen, wobei er an Hühnern experimentierte.2 Dazu muß man wissen, daß in den 30er Jahren die Eugenik3 hoch im Kurs stand, nicht nur in Dänemark. 1939 begann Værnet schließlich mit Testosteron-Forschungen, und am 21. Juli 1941 berichtete die Tageszeitung B. T. unter dem Aufmacher Revolutionierende dänische Hormonoperationen, daß Værnet die von ihm entwickelten künstlichen Hormone an Hühnern ausprobiert hatte. Ergebnis: Aus Hühnergegacker wurden Hahnenschreie. Man geht davon aus, daß der Arzt damals auch bereits Schwule mit seinen künstlichen Hormonen behandelt hat, um sie von ihrer Homosexualität zu heilen. Er hatte eine Metallkapsel, die den Patienten als Hormondepot eingepflanzt wurde, entwickelt. Durch eine Öffnung in dieser Kapsel sollte die vom Körper benötigte Hormonmenge an diesen abgegeben werden. Die künstliche Drüse sollte wie eine natürliche funktionieren. 1942 implantierte er einem schwulen Lehrer eine solche künstliche Testosteron-Sexualdrüse mit „gutem Erfolg“ – der Lehrer heiratete. 1943 ließ sich Værnet seinen „Hormon-Preßling“ in Dänemark patentieren, danach in Deutschland.

 

Værnet dient sich den Nazis an

Værnet war nicht nur davon überzeugt, Homosexualität heilen zu können, sondern auch überzeugter Nationalsozialist. Nach der Besetzung Dänemarks verlor er deswegen bald viele seiner PatientInnen. Mit seiner Praxis am Platanvej in Kopenhagen hatte er sich vor dem Krieg als einer der bekanntesten Modeärzte etabliert. 1943 verkaufte er sie an die Besatzungsmacht, kurz darauf wurde sie von der dänischen Widerstandsbewegung in die Luft gesprengt. Værnet diente sich mit seiner „Heilmethode“ den Nazis an und konnte Reichsführer-SS Heinrich Himmler dafür gewinnen. Himmler, der darin wohl eine „Endlösung“ der Homosexuellenfrage sah, war offenbar begeistert. Im November 1943 befahl er die Anstellung Værnets durch die Deutsche Heilmittel GmbH, eine SS-Firma. Sein Vertrag wurde von Gestapo-Chef Kaltenbrunner und Reichsarzt-SS Grawitz unterschrieben. Værnet erhielt den Rang eines SS-Sturmbannführers und Laboratorien im besetzten Prag, wohin er samt Familie übersiedelte.

Im Juli 1944 wurde die Leitung des KZ Buchenwald von Himmlers Büro angewiesen, homosexuelle Gefangene für Værnets Behandlungsmethode abzustellen. Am 26. Juli 1944 kam Værnet ins KZ, um persönlich fünf „echte Homosexuelle“ auszusondern, die als geeignet für die Erprobung seiner Heilmethode erschienen. Am 13. September 1944 wurden diesen fünf Personen, wovon zwei kastriert und einer sterilisiert waren (zwei waren nicht voroperiert), die künstliche Sexualdrüse eingesetzt. Am 8. Dezember 1944 wurde sieben weiteren Häftlingen eine Hormon-Metallkapsel implantiert. Laut Eugen Kogon (siehe Fußnote 1) sind mindestens zwei Versuchspersonen unmittelbar als Folge der Operation – wegen der mangelnden hygienischen Verhältnisse – gestorben. Zwar berichtete Værnet in der ersten Zeit seinen Vorgesetzten regelmäßig über Fortschritte und Erfolge, doch gegen Ende 1944 entwickelte er ein Eigenleben. Im Oktober 1944 hatte er seinen letzten vertraglich vereinbarten Monatsbericht abgeliefert. Irgendetwas schien bei den Experimenten schiefzulaufen. Schließlich beschwerte sich die Deutsche Heilmittel GmbH in Prag am 28. Februar 1945 in einem Schreiben an das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS über die „große Selbständigkeit“ Værnets.

Wie erwähnt, sind Værnets medizinische Versuche – zumindest die oben erwähnten, möglicherweise gibt es jedoch noch weitere, über die keine Unterlagen bzw. Augenzeugenberichte existieren – sowie die Umstände seiner Tätigkeit im Deutschen Reich recht gut dokumentiert (siehe Literaturhinweise in Fußnote 1), weshalb an dieser Stelle nicht in allen Einzelheiten darauf eingegangen werden soll (dies würde den Rahmen dieses Berichts bei weitem sprengen). Über das weitere Schicksal der von Værnet behandelten Schwulen – ob sie das KZ überlebten, ob sie nach dem Krieg jemals Entschädigung erhielten – ist wenig bis gar nichts bekannt.

 

Værnet gelingt die Flucht

Nach dem Ende des Kriegs kam Værnet in britische Kriegsgefangenschaft und wurde wie viele andere Landesverräter in der Alsgade Skole in Kopenhagen interniert. Man wußte nur, daß er als SS-Arzt im KZ Buchenwald tätig war – einer der rund 2000 dort internierten dänischen Polizisten hatte ihn erkannt und im Mai 1945 darüber Mitteilung an die dänische Ärztekammer (Den Almindelige Danske Lægeforening – DADL) gemacht. Sie informierte das Justizministerium, erhielt aber nie eine Antwort. Über seine Menschenversuche war noch nichts bekannt. Gleichzeitig lief gegen ihn – wie gegen mehr als hundert andere Ärzte, die der Nazi-Partei angehörten – ein Ausschlußverfahren beim Kammer-Schiedsgericht. Værnet kam dessen Entscheidung jedoch zuvor: Am 2. Jänner 1946 ließ er der Kammer durch einen Anwalt seinen Austritt mitteilen. Diese antwortete, daß der Austritt keinerlei Einfluß auf das anhängige Ausschlußverfahren hätte. In der Ärztekammer ging man davon aus, daß er noch inhaftiert wäre. Doch im Dezember 1945 war er wegen eines angeblichen Herzleidens ins Kommunehospital in Kopenhagen verlegt worden. Im Herbst zuvor hatten ihn die Briten den dänischen Behörden übergeben. Irgendwann Ende 1946 gelang Værnet schließlich die Flucht über Schweden nach Argentinien: Ärztekollegen – so das hartnäckige Gerücht – hätten ihm bescheinigt, daß sein Herzleiden nur in Schweden behandelt werden könnte. Daraufhin erhielt er die Erlaubnis, nach Stockholm zu reisen.

Bei den Nürnberger Prozessen kamen schließlich die Menschenversuche Værnets ans Licht. Im April 1947 erhielt die Ärztekammer ein Schreiben der Alliierten Kriegsverbrecherkommission in Nürnberg, in dem über Værnets medizinische Experimente an KZ-Häftlingen Mitteilung gemacht wurde. Die Kammer ließ dieses Schreiben über die Gesundheitsbehörden an den Generalstaatsanwalt (Rigsadvokaten) weiterleiten. Von dort kam die lakonische Antwort, jüngst erhaltenen Informationen zufolge hielte sich Værnet in Brasilien auf, man wüßte jedoch keine genaue Adresse. Die dänische Öffentlichkeit erfuhr von den Beschuldigungen gegen Værnet am 22. August 1947 aus der kommunistischen Tageszeitung Land og Folk und der am selben Tag erscheinenden Ausgabe der Ugeskrift for Læger, der Wochenzeitschrift der Ärztekammer.

Die Tatsache und die oben beschriebenen wesentlichen Umstände von Værnets Flucht sind ebenfalls seit langem bekannt, nicht jedoch die näheren Einzelheiten, wer ihm wie dabei geholfen hat. Erst im August, November und Dezember 1999 wurden nunmehr neue Details bekannt. Und dies geht letztlich eigentlich auf den erwähnten Artikel über Værnet in den LN 2/1988 zurück. Damals hat der Autor dieser Zeilen einen Beitrag über den SS-Arzt aus dem Dänischen übersetzt und für die LN bearbeitet: Die beiden Autoren Harly Foged und Henrik Krüger hatten 1985 ein Buch über das nach dem Krieg aufgebaute Nazi-Fluchtnetz durch Dänemark veröffentlicht und darin das erste Kapitel dem Wirken und der Flucht Værnets gewidmet.4 Am Ende des Kapitels schreiben sie: Von den Helfern des Nazi-Fluchtnetzes durch Dänemark und Schweden wurden die flüchtenden Kriegsverbrecher „Nürnberger Urnen“ genannt. Dr. Værnet war möglicherweise der einzige Däne, der tatsächlich für Nürnberg qualifiziert gewesen wäre. Aber irgend jemand verhalf der Urne Værnet zur Flucht, sodaß seine Asche in alle Winde zerstreut wurde. Wer? – Diese Frage ist bis heute nicht restlos geklärt. Das letzte, was man – zumindest in der Öffentlichkeit – bis zum Aufspüren seines Enkels 1998 von Værnet hören sollte, war in einem Leserbrief in der Tageszeitung Berlingske Tidende vom 19. November 1947. Darin wunderte sich ein in Argentinien lebender Däne, daß Værnet trotz der ihm zur Last gelegten Verbrechen eine Stelle innerhalb des Gesundheitswesens von Buenos Aires bekleidete. Es sah indes so aus, als ob sich weder dänische noch alliierte Behörden dafür interessierten, ihn zur Verantwortung zu ziehen oder gar seine Auslieferung in die Wege zu leiten.

 

Aufklärung von Dänemark verlangt

Diesen Beitrag aus den LAMBDA-Nachrichten 2/1988 verwendete schließlich – abermals gekürzt – Günter Grau in seinem Buch Homosexualität in der NS-Zeit (siehe Fußnote 1), das 1995 auch in englischer Übersetzung erschien.5 Dort hat PETER TATCHELL, bekannter Schwulenaktivist der Londoner Aktionsgruppe OutRage!, die auf direct action spezialisiert ist, vom Fall Værnet gelesen. Im März 1998 schrieb Tatchell an den dänischen Ministerpräsidenten Poul Nyrup Rasmussen und an den argentinischen Staatspräsidenten Carlos Menem. Von ersterem verlangte OutRage! u. a. Aufklärung darüber, warum die dänischen Justizbehörden die schwerwiegenden Anschuldigungen gegen Værnet ignorierten, was in den letzten 50 Jahren von dänischer Seite unternommen worden ist, um Værnet wegen seiner Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu bringen, und ob seine Fluchthelfer jemals zur Verantwortung gezogen wurden. Tatchell verlangte die sofortige Aufnahme von Ermittlungen und die Einleitung eines strafrechtlichen Verfahrens. Zu diesem Zeitpunkt hatte Tatchell keinen Hinweis darüber, daß Værnet tot war, wovon jedoch auszugehen war, denn mittlerweile hätte er 105 Jahre alt sein müssen. Es hätte aber auch ein Blick ins dänische Ärzte-Who-is-Who Den Danske Lægestand (Der dänische Ärztestand) genügt, wo Carl Værnets Sterbedatum mit August 1968 angegeben wird – das allerdings, wie sich inzwischen herausgestellt hat, falsch ist.

Durch seine Anfrage an den dänischen Premierminister hat Tatchell jedenfalls den Fall Værnet wiedereröffnet und den Stein zur endgültigen Klärung des Falles ins Rollen gebracht. So machte sich der dänische Schwulenaktivist Hans Christian Thaysen im Internet auf die Suche nach Verwandten Værnets in Südamerika. Seine Nachforschungen mittels der Alta-Vista-Suchmaschine zeitigten rasch Erfolg. Ein Enkelsohn Carl Værnets, Cristian Vaernet, wurde im April 1998 gefunden. Sein Vater war der jüngste Sohn aus der ersten Ehe des SS-Arztes mit Edith Hammershøj. Er wußte nichts von der SS-Vergangenheit seines Großvaters und war ziemlich schockiert, plötzlich damit konfrontiert zu werden. Aber er war bereit, in der Familie Erkundigungen über seinen Großvater einzuholen. Er bestätigte, daß dieser nach dem Krieg eine Stelle als Endokrinologe im argentinischen Gesundheitsministerium bekleidete. Und er konnte auch über den Tod des SS-Arztes Auskunft geben: Carl Peter Værnet verstarb am 25. November 1965 im Alter von 72 Jahren und liegt auf dem Cementerio Británico, dem britischen Friedhof in Buenos Aires, begraben (Reihe 11 A 120). Cristians Vater war nach dem Krieg ebenfalls nach Argentinien gekommen, hatte sich aber in der Provinz Chaco, mehr als 1000 km von der Hauptstadt entfernt, niedergelassen, wo Cristian heute noch lebt. Ansonsten konnte Cristian nicht viele Auskünfte geben. Er war acht Jahre alt, als sein Großvater starb, und seitdem auch sein Vater tot ist, hat die Familie keinen Kontakt mehr zu den Brüdern seines Vaters, die in Dänemark leben.

Diese Informationen waren auch Anlaß für Thaysen, einen eigenen Website zum Fall Carl Værnet anzulegen und alle relevanten Informationen auf diesem zusammenzutragen. Der Autor dieser Zeilen machte Thaysen auf das Buch von Foged/Krüger aus 1985 aufmerksam, das inzwischen in Dänemark in Vergessenheit geraten war, bei ihm zu Hause aber im Regal steht. Der Website enthält auch viele Links zu anderen relevanten Websites, etwa zu den Lobotomie-Skandalen in Skandinavien (Texte auf englisch) – siehe später. Auch die vielen neuen Informationen im vorliegenden Artikel stammen von Thaysens Website.

 

Rasmussen antwortet spät

Fast fünfzehn Monate sollten vergehen, bis Peter Tatchell Antwort vom dänischen Ministerpräsidenten erhielt. Am 8. Juni 1999 teilte ihm Rasmussen mit, das Justizministerium mit der Sache betraut zu haben. Am 6. Juli 1999 schrieb dieses schließlich an Tatchell, daß sich alle Unterlagen aus der fraglichen Zeit im Staatsarchiv (Rigsarkivet) befänden, das Ministerium selbst nicht im Besitz irgendwelcher Unterlagen zu Værnet wäre. Man habe Tatchells Brief ans Rigsarkiv weitergeleitet. Außerdem wurde darauf hingewiesen, daß in Fällen von Informationen über Privatpersonen und über Strafverfahren erst nach 80 Jahren Zugang zu Dokumenten möglich wäre, allerdings könne unter gewissen Umständen eine Ausnahme von dieser Regel gemacht werden. Entsprechende Ansuchen müßten ans Rigsarkiv direkt gerichtet werden. Damit gab sich Tatchell aber nicht zufrieden, immerhin ging es doch darum, eine offizielle Untersuchung darüber einzuleiten, aufgrund welcher konkreten Umstände es Værnet gelang, sich nach Argentinien abzusetzen, und wer ihm dabei geholfen hatte. In seiner Antwort an das Justizministerium bestand er auf gerichtlichen Ermittlungen – es ginge ihm nicht darum, selber Akteneinsicht zu nehmen.

Auch Rigsarkivet meldete sich direkt mit einem Schreiben bei Tatchell. Es wies ebenfalls auf die 80-Jahr-Bestimmung hin, die im Fall Værnet auf jeden Fall zum Tragen käme, daher müßte vor Einsicht in die Unterlagen eine Ausnahmegenehmigung erwirkt werden. Das Archiv bestätigte jedenfalls – was bereits gerüchteweise seit längerem bekannt war –, daß drei Schachteln bzw. Ordner mit Archivmaterial vorhanden wären: einer mit Akten vom Justizministerium, einer mit Unterlagen des Generalstaatsanwalts und einer mit Dokumenten der Staatspolizei (Rigspolitiet). Das Archiv könne nur mit Erlaubnis der drei genannten Behörden eine Ausnahme von der Sperrklausel und die Materialien zugänglich machen. Bevor das Archiv die drei Behörden um eine solche Zustimmung ersuchen könnte, müßten von interessierter Seite weitere Informationen über den Zweck der Nachforschungen bekanntgegeben werden. Tatchell teilte dem Archiv daraufhin mit, daß es ihm nicht um Akteneinsicht ginge, sondern darum, daß Dänemark seiner Verantwortung nachkomme, Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachzugehen und diese aufzuklären.

Rigsarkivet hatte sich übrigens schon einmal, im Juli 1979, ziemlich abweisend gezeigt. Damals recherchierte Richard Plant für sein Buch.6 Er kannte Værnets Experimente aus den Buchenwald-Archiven und wollte dazu in Dänemark weitere Nachforschungen anstellen. Auch die Tageszeitung Politiken, die Wind von der Sache bekam, versuchte, an die Unterlagen im Rigsarkiv heranzukommen, scheiterte aber ebenso wie Plant an der 80-Jahr-Sperrfrist. Politiken brachte dafür einige Tage später ein Interview mit dem ältesten Sohn des SS-Arztes, Kjeld Per Værnet, der ebenfalls Arzt ist. Der Sohn behauptete – was mit großer Wahrscheinlichkeit eine glatte Lüge war –, seit seinem 7. Lebensjahr (also seit 1927) keinen Kontakt mehr zu seinem Vater gehabt zu haben. Dennoch verteidigte er seinen Vater und erklärte u. a., dieser hätte die SS-Uniform nur getragen, um an Lebensmittelmarken heranzukommen…

 

Parlamentarische Anfragen

Da Tatchells Brief an Premier Rasmussen so lange unbeantwortet blieb, wandte sich Hans Christian Thaysen bereits Ende Jänner 1999 an den Justizsprecher der Dansk Folkeparti, Peter Skaarup. Dieser stellte schließlich am 13. Juli 1999 parlamentarische Anfragen an den Justiz- sowie an den Gesundheitsminister, beide Sozialdemokraten. Vom Justizminister Frank Jensen wollte er wissen, wie Værnet die Flucht gelingen konnte. Dieser antwortete am 26. Juli: Eine eingehendere Beantwortung der gestellten Anfrage würde eine umfassendere und sehr ressourcenintensive Untersuchung von Materialien und Informationen von in erster Linie historischem Interesse voraussetzen, die sich – soweit sie existieren sollten – u. a. im Staatsarchiv befinden müßten. Ich finde nicht, daß auf der vorliegenden Grundlage Anlaß für die Einleitung einer solchen Untersuchung besteht.

Vom Gesundheitsminister wollte Skaarup wissen, wie ärztliche Dokumente gefälscht werden konnten, die Værnet die Flucht nach Südamerika ermöglichten. Minister Carsten Koch antwortete am 27. Juli 1999 lapidar: Auf der vorliegenden Grundlage sehe ich keine Veranlassung, durch das Staatsarchiv eine größere Untersuchung darüber einzuleiten, welche Informationen darüber vorliegen könnten, wie es einigen nicht identifizierten Ärzten gelang, ärztliche Dokumente zu fälschen.

 

Mediale Unterstützung

Thaysens Schreiben an den Abgeordneten Skaarup, er möge an die beiden Minister parlamentarische Anfragen richten, wurde auch an Erik Høgh-Sørensen, einen interessierten Journalisten der dänischen Nachrichtenagentur Ritzaus Bureau (RB), übermittelt, wobei dieser eigenständige Nachforschungen anstellen wollte, bevor die Anfragen im Folketing gestellt werden sollten. Außerdem wollte er die Sache medial aufbereiten und begleiten – was auch geschah. Am 4. Juli 1999 veröffentlichte der RB-Journalist zwei Meldungen mit ausführlichem Hintergrundbericht über die ganze Angelegenheit (inklusive eigener Recherche) und erwähnte dabei auch, daß Tatchells Anfrage an den Ministerpräsidenten 15 Monate unbeantwortet geblieben war und dann mit dem dürftigen Hinweis, die Sache sei dem Justizministerium übergeben worden, erledigt wurde. Die Tageszeitung Jyllands-Posten übernahm die Meldung und versah ihren Bericht am nächsten Tag mit der Überschrift: Britische Aktivisten fordern Offenheit über Dänemarks Mengele. Es ist daher wohl kein Zufall, daß das Justizministerium seine oben erwähnte Antwort an Tatchell dann gleich am 6. Juli abschickte!

Die Meldung wurde auch von einem Dutzend anderer Zeitungen übernommen. Die Sache sollte das ganze zweite Halbjahr 1999 über Thema in den dänischen Medien bleiben. Nach den kargen Auskünften der beiden Minister, die auch in den Medien auf Kritik stießen, fand die Ankündigung der Ärztekammer, ihre Archive durchstöbern zu wollen, Echo in den Medien – wobei Kammerpräsident Jesper Poulsen im Juli 1999 ankündigte, alle relevanten Funde – inklusive Namen – offenlegen zu wollen. Auch die Ärztekammer war aufgrund der Ereignisse unter erheblichen Druck geraten, zur Aufklärung der Affäre und ihrer Rolle darin beizutragen.

 

Neue Erkenntnisse

Ein paar Wochen später präsentierte die Kammer das Ergebnis ihrer Archivrecherche: Ein Schandfleck auf dem Ärztestand betitelte die Ugeskrift for Læger ihren Bericht am 23. August 1999. Die Nachforschungen haben den bisher gehegten Verdacht bestätigt: Værnet wurde wegen seiner – fingierten – Herzkrankheit von den Behörden völlig legal aus der Haft entlassen – und zwar, weil keine Verdunklungsgefahr bestanden hätte. Zuvor hatten mehrere Ärzte Værnet diese schwere Herzkrankheit bescheinigt und so getan, als würde deren Behandlung in Schweden über Leben und Tod entscheiden. Ein holländischer Herzspezialist bot sogar an, Værnets Sohn mit der Behandlung dieser Krankheit vertraut zu machen. Dies geht aus dem Protokoll eines Gesprächs zwischen Ärztekammer und Polizei hervor, das allerdings erst Ende 1947 geführt wurde, als schon klar war, daß sich der SS-Arzt nach Südamerika abgesetzt und damit dem Gerichtsverfahren entzogen hatte. Entgegen der Ankündigung ihres Präsidenten gab die Ärztekammer allerdings die Namen jener Ärzte, die die gefälschten Atteste ausstellten, nicht bekannt. Auf diese Namen sollten Journalisten aber kurz darauf in einem anderen Archiv stoßen (siehe später). Wie aus den Unterlagen des Kammerarchivs weiters hervorgeht, wurde Værnet ins Serafimerlazarett in Stockholm eingeliefert. Von den dänischen Behörden bekam er für die Reise sogar einen kleineren Geldbetrag in schwedischen Kronen ausgehändigt. Bis dahin war seine Flucht also gar keine.

Zugleich betonte die Ärztekammer, daß sie sowohl 1945 als auch 1947 die jeweils über Værnet erhaltenen Informationen (siehe oben) sofort an die Justizbehörden weitergeleitet hatte. Es wurde auch bekannt, daß die Mitteilung über Værnets Menschenversuche im KZ durch die Nürnberger Kriegsverbrecherkommission in Beantwortung einer diesbezüglichen Anfrage des damaligen Kammerpräsidenten V. A. Fenger erfolgte, sich die Ärztekammer also von sich aus bemühte, in Erfahrung zu bringen, ob dänische Ärzte an Kriegsverbrechen beteiligt waren. Im März 1948 ersuchte der Vorstand der Ärztekammer das Oberschiedsgericht der Kammer, den SS-Arzt offiziell auszuschließen, ohne den Ausgang des „Säuberungsprozesses“ gegen die über hundert Nazi-Mitglieder unter den Ärzten abzuwarten. Ob das jemals formell geschehen ist, konnte indes nicht geklärt werden.

Die letzten Akten der Kammer stammen vom April und Mai 1959. Offenbar wollte Værnet nach Dänemark zurückkehren und dort seine Ärztetätigkeit fortsetzen, nachdem die Ärztekammer 1950 eine Generalamnestie für alle durch Nazi-Engagement korrumpierten Ärzte erlassen hatte: Der Chef der Staatspolizei ließ über die Gesundheitsbehörden anfragen, wie sich die Ärztekammer zu einer Rückkehr Værnets stellen würde, und übermittelte ihr die Unterlagen aus Nürnberg. Angesichts dieses belastenden Materials teilte die Ärztekammer der Staatspolizei mit, sie würde es sich gegebenenfalls vorbehalten, die Amnestie auf Værnet nicht anzuwenden, selbst wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen ihn einstellen sollte.

Mit der Öffnung ihres Archivs hat die Ärztekammer die Angelegenheit endgültig zu einem Abschluß bringen und den in der Vergangenheit gegen sie erhobenen Vorwürfen nachgehen wollen. Dies sei nun geschehen, die Kammer betrachte die Sache daher für sie als abgeschlossen, jetzt müßten andere Behörden die noch offenen Fragen klären, um den Fall endgültig ad acta zu legen, hieß es abschließend in dem Beitrag der Ugeskrift for Læger.

Eine merkwürdige Sache bleibt dennoch: In der Ausgabe 1949 des bereits erwähnten Nachschlagewerks Den Danske Lægestand fanden sich in Carl Værnets Eintrag noch folgende biographische Daten: SS-Sturmbannführer, Arzt im Konzentrationslager Buchenwald. Nicht praktiziert Mai – September 1945. Diese Angaben fehlten dann in der Ausgabe des dänischen Ärzte-Who-is-Who aus dem Jahre 1957, wie in der Mitgliederzeitschrift Håndslag des Verbandes der WiderstandskämpferInnen (Aktive Modstandsfolk) zu lesen war (Ausgabe vom November 1992). In diesem Verzeichnis geführt zu werden heißt jedoch nicht, Mitglied der Ärztekammer zu sein.

 

Weitere Nachforschungen

Die Medien führten schließlich eigene Recherchen durch. Der Korrespondent von Jyllands-Posten besuchte das Grab Værnets auf dem Friedhof in Buenos Aires und wußte am 3. Oktober 1999 – Ironie des Schicksals – zu berichten: Der SS-Arzt müsse sich die Erde mit einer jüdischen Familie teilen: Auf der anderen Seite des Kieswegs schmücke ein goldener Davidstern den schwarzen Grabstein der Familie Bolottnicoff. Außerdem brachte er in Erfahrung, daß Carl Værnets jüngste Tochter aus zweiter Ehe, die heute 63jährige Lull, die einzige aus der Familie ist, die noch in Buenos Aires lebt.

Im Zuge ihrer Recherchen fanden Journalisten auch heraus, daß Dänemark am 26. Februar 1965 aufgrund eines Ersuchens aus Deutschland, eine endgültige Namensliste dänischer Kriegsverbrecher bekanntzugeben, eine vertrauliche Liste mit 31 Namen übermittelt hatte. Værnets Name stand auf dieser Liste. Das Justizministerium behandelte die Liste als geheime Verschlußsache, doch das dänische Fernsehen, dem die Namen zugespielt wurden, veröffentlichte alle 31 Namen in einer Sendung am 30. Juli 1999, Ritzaus Bureau tat dies ebenfalls am nächsten Tag.

Die Journalisten begehrten natürlich auch Einsicht in die Akten des Staatsarchivs. Als erstes konnte Ritzaus Bureau den Ordner mit den Akten des Justizministeriums im Rigsarkiv einsehen. Am 6. November 1999 berichtete die Nachrichtenagentur über die Resultate dieser Einschau: Es war der damalige sozialdemokratische Justizminister Niels Busch-Jensen gewesen, der 1949 entschied, die Versuche aufzugeben, Værnet doch noch vor Gericht zu stellen, und die Sache einstellte.

Busch-Jensen setzte sich mit seiner Entscheidung über die einhellige, indes gegenteilige Ansicht des zuständigen Staatsanwalts für die Insel Seeland, Th. B. Roepstorff, sowie des Generalstaatsanwalts hinweg. Beide hatten dafür plädiert, die Auslieferung Værnets zu betreiben. Im Jänner 1949 hatte Roepstorff einen diesbezüglichen Bericht an seinen Vorgesetzten, den Generalstaatsanwalt, verfaßt. Darin hieß es: Es muß aufgrund des vorliegenden Materials als hinreichend bewiesen angesehen werden, daß der Beschuldigte die in Frage stehenden Experimente an Konzentrationslagerhäftlingen vorgenommen hat. Da die vom Beschuldigten begangenen Verbrechen, insbesondere seine Experimente an Konzentrationslagerhäftlingen als schwere Verbrechen gewertet werden müssen, stelle ich den Antrag, das Justizministerium zu ersuchen, die Auslieferung des Beschuldigten an Dänemark zu veranlassen. Zwar äußerte sich auch Roepstorff aufgrund der Beweislage skeptisch darüber, daß der KZ-Arzt wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt werden könnte, aber er wollte gegen ihn Anklage wegen „unstatthafter ärztlicher Tätigkeit“ und Kollaboration mit den Nazi erheben. Er hielt eine zweijährige Gefängnisstrafe für realistisch. Generalstaatsanwalt F. Pihl schloß sich Roepstorffs Antrag vollinhaltlich an. Aber der Justizminister entschied anders. Wie aus einem mit 28. Februar 1949 datierten Schreiben hervorgeht, waren zwei Gründe für den Minister ausschlaggebend: erstens die Beweislage und zweitens der Umstand, daß sich der Beschuldigte in Südamerika aufhielt.

Weiters war den Akten aus dem Rigsarkiv zu entnehmen, daß das Gericht in Frederiksberg (Kopenhagen) am 5. Dezember 1946 einen Haftbefehl gegen Carl Værnet ausgestellt hatte. Den Gerichtsakten ist zu entnehmen, daß dem Gericht bekannt war, daß der SS-Arzt die Erlaubnis erhielt, zur Durchführung einer Kur nach Stockholm zu reisen. Die Behörden hatten offenbar Verdacht geschöpft, daß Værnet nicht nach Dänemark zurückkehren würde. Die Polizeidirektion Frederiksberg richtete daher auch ein Auslieferungsbegehren an die zuständigen schwedischen Behörden. Im Jänner 1947 gab es dann die ersten Berichte, daß sich der gesuchte Kriegsverbrecher nach Brasilien abgesetzt hätte. Der dänische Gesandte in Brasilien ersuchte sogar um Instruktionen, wie er sich verhalten sollte, falls Værnet einen neuen Paß oder eine Paßverlängerung beantragte.

 

Prominente Ärztekollegen

Ritzaus Bureau wurde indes in einem anderen Archiv fündig: Im Landsarkiv for Sjælland in Kopenhagen konnten Dokumente der Polizeidirektion Frederiksberg eingesehen werden. In diesen Dokumenten fanden sich ebenfalls Beweise dafür, daß Ärztekollegen Værnets ihm durch die Bescheinigung einer – fingierten – Herzkrankheit die Ausreise nach Schweden ermöglicht hatten. Laut Jyllands-Posten vom 19. Dezember 1999 haben die Ärzte Tage Bjerring vom Kommunehospital in Kopenhagen und Gunnar Kelstrup, der auch in Verbindung mit der Geheimdienstabteilung des Generalstabs, einer Vorläuferin des Nachrichtendienstes des dänischen Verteidigungsministeriums, stand, in den Jahren 1945 und 1946 wiederholt Erklärungen abgegeben, wonach Værnet an einem schweren Herzleiden litte und nur noch wenige Jahre zu leben hätte.

In einem Attest vom 24. Jänner 1946 – zu dem Zeitpunkt war, wie vorhin dargelegt, der SS-Arzt vom Internierungslager in der Alsgade Skole ins Kommunehospital überstellt gewesen – stellte Oberarzt Bjerring fest, Værnet habe ein schweres Herzleiden, und ich bin der Ansicht, daß ein neuerlicher Gefängnisaufenthalt wahrscheinlich zu einem verhältnismäßig raschen Tod führen würde, ebenso wie eine Vernehmung im günstigsten Fall nur schwere Herzanfälle mit Herzkrämpfen auslösen würde. (…) Ganz allgemein sehe ich die Aussichten für Dr. Værnet als sehr schlecht an, da ich nicht glaube, daß er länger als einige wenige Jahre leben wird und wahrscheinlich nicht einmal so lange.

Am 22. August 1946 schrieb der Arzt Gunnar Kelstrup an Staatsanwalt Th. B. Roepstorff, daß sich Dr. Værnets Krankheit seither in der Weise, wie sie in den Erklärungen des Oberarztes vorhergesagt wurde, entwickelt hat. Die Herzkrämpfe haben trotz der zur Verfügung stehenden Behandlung an Häufigkeit zugenommen. Darüber hinaus ist nun hinzugekommen, daß aufgrund der durch die Herzanfälle ausgelösten Störungen der Blutzirkulation die linke Hand und der linke Arm hochgradig unbeweglich sind, ebenso machen sich die Durchblutungsstörungen an der rechten Hand und in beiden Füßen deutlich bemerkbar. Dr. Værnet ist daher nicht mehr im Stande, z. B. allein zu essen, sich anzukleiden u. ä.

Diese Angaben über Værnets Gesundheitszustand waren indes frei erfunden. Værnet scheint in dieser Zeit sogar gearbeitet und sich – vermutlich gemeinsam mit seinem Sohn Kjeld – darum bemüht zu haben, mit der amerikanischen Pharmafirma DuPont einen Vertrag über die Herstellung des von ihm entwickelten künstlichen Hormons abzuschließen.

Trotz dieser neuen Erkenntnisse und Funde in den Archiven bleibt eine Frage immer noch ungelöst: Welche Behörde und welche Beamte haben schließlich in der Zeit zwischen Ende August und Anfang Dezember 1946 unter welchen konkreten Umständen die Genehmigung dazu erteilt, Værnet aus dem Kommunehospital bzw. dem Internierungslager zu entlassen, und ihm die Reise nach Stockholm erlaubt? Aber wahrscheinlich wird auch diese Frage noch gelöst werden, wenn die beiden restlichen Ordner mit den Værnet-Akten im Staatsarchiv aufgearbeitet werden, womit wohl demnächst zu rechnen ist.

 

Nazi-Fluchtnetz

Von Schweden dürfte Værnet dann ganz unspektakulär mit dem Linienflugzeug über Genf nach Buenos Aires geflogen sein. Seine Familie – mit Ausnahme seines ältesten Sohnes Kjeld – kam später mit dem Königlichen Postschiff nach.

In Dänemark und Schweden wurde nach dem 2. Weltkrieg ein großangelegtes Nazi-Fluchtnetz aufgebaut. Tausende Nazi-Größen wurde über diese Fluchtroute nach Übersee geschleust. Die Fischer- und Privatboote hatten wieder Hochbetrieb mit nächtlichen Überfahrten über den Öresund. Während sie in den Jahren der Okkupation Jüdinnen und Juden sowie Nazi-GegnerInnen nach Schweden in Sicherheit brachten, waren es nun Kriegsverbrecher, SS-Leute, Nazi-Bonzen und Wissenschaftler der Kriegsindustrie, Flugzeugkonstrukteure und Atomforscher aus dem besiegten Deutschland, die heimlich über den Sund gebracht wurden.7

Längst waren die Kommunisten und die Sowjetunion der gemeinsame Hauptfeind, ehemalige Nazis arbeiteten mit den Westalliierten zusammen. Speziell die USA hatten großes Interesse daran, daß die kriegswichtigen Wissenschaftler für sie und nicht für die UdSSR weiterarbeiteten. Viele Nazi-Größen wurden auch von den Amerikanern mit neuen Identitäten ausgestattet und in ihren Geheim- und Abwehrdiensten weiterverwendet. Die dänischen und schwedischen Behörden waren voll im Bilde, die Polizei unternahm gegen die illegale Schlepperei kaum etwas, noch dazu, wo vor Kriegsende ohnehin die Mehrheit der schwedischen Polizeibeamten selbst nazistisch eingestellt war, und die dänischen zu 47 %. Bis Ende der 40er Jahre funktionierte das Fluchtnetz. Viele geflüchtete Nazi und Angehörige der SS, insbesondere kleine Fische, blieben indes in Schweden, das nach Spanien und Argentinien zum drittgrößten Zufluchtsort für Nazi wurde. Insbesondere Esten, Letten und Litauer wurden als Angehörige von Brudervölkern betrachtet, die man nicht an die Sowjetunion ausliefern wollte, obwohl die baltischen SS-Verbände zu jenen zählten, die die grausamsten und fürchterlichsten Kriegsverbrechen begangen hatten.

In Zusammenhang mit dem Nazi-Fluchtnetz kam es 1953 – aufgrund einer Untersuchung des Justizministeriums – zum größten Korruptionsskandal der dänischen Nachkriegsgeschichte, der als die sogenannte „Spinnen-Affäre“ (edderkoppesagen) in die Annalen einging: Es kam ans Tageslicht, daß sich sowohl der dänische als auch der britische Leiter des Internierungslagers bestechen ließ und inhaftierte Kriegsverbrecher sich die Freiheit erkaufen konnten.

 

Alte Wunden

Das war aber nicht die einzige alte Wunde, an die man durch die neuerliche Beschäftigung mit dem Fall Carl Værnet erinnert wurde. Das gesamte Selbstverständnis über die Rolle des Landes während der deutschen Besatzung wurde wieder auf den Prüfstand gestellt. Einerseits war Dänemark neben Bulgarien das einzige besetzte Land, das seine jüdische Bevölkerung nicht den Gaskammern auslieferte, und es gab eine Widerstandsbewegung, der 20.000 Leute angehörten, die mit 4000 Sabotageaktionen die Ehre des Landes retteten, aber andererseits war Dänemark ein Musterprotektorat der Nazi, das eng mit Deutschland kollaborieren mußte und dessen Agrar- und Industrieproduktion wesentlich dazu beitrug, die deutsche Kriegsmaschine zu ölen.

Selbst die Invasion Dänemarks durch die deutschen Truppen wurde vorher ausverhandelt, und zwar in Geheimgesprächen am 15. und 17. März 1940 in Rostock, wobei die Deutschen kein schlechtes Druckmittel gegen den dänischen Außenminister Munch in der Hand hatten: Im Jänner 1940 hatten sie seinen schwulen Sohn Ebbe Munch in einer Homosexuellenbar in Hamburg verhaftet und drohten nun mit dem Schlimmsten. Nach der relativ unblutigen Besetzung Dänemarks am 9. April 1940 konnte der Sohn als freier Mann nach Dänemark zurückkehren. Nach dem Krieg stahl Munch alle relevanten Dokumente aus dem Rigsarkiv, sodaß diese Angelegenheit bis heute ziemlich im dunkeln liegt.

 

Zivile Parallelen

Es gibt aber auch eine andere – plausible – Spekulation darüber, warum man nach dem Krieg an Værnet nicht so rasend interessiert war: Behandlungen – aber nennen wir sie ruhig Menschenversuche –, wie sie der SS-Arzt im KZ Buchenwald vornahm, standen nämlich auch in Dänemark vor, während und lange nach dem Krieg auf der Tagesordnung – und das in großem Stil. Vielleicht war man gar nicht daran interessiert, Værnets KZ-Experimente zu thematisieren, um nicht die Fragwürdigkeit vieler „ziviler“ Behandlungsmethoden erörtern zu müssen?

In Dänemark wurde Homosexualität zwar 1930 entkriminalisiert, aber am 1. Juni 1929 war auch das erste Gesetz der Welt über die Zwangskastration in Kraft getreten. Die Eugenik (siehe Fußnote 3) hatte Hochkonjunktur. Man wollte durch entsprechende „Gesundheitspolitik“ verhindern, daß sich fortpflanzte, was nicht der Norm entsprach. Darunter fielen u. a. geistig Zurückgebliebene, körperlich oder geistig Behinderte, AlkoholikerInnen, sogenannte Asoziale – und natürlich Homosexuelle. Treibende Kraft hinter diesem „eugenischen“ Kastrationsgesetz war der Arzt Knud Sand (1887–1968), der immerhin von 1929 bis 1959 Vorsitzender des einflußreichen Gerichtsmedizinischen Rates (Retslægerådet) war. Wie Carl Værnet forschte Sand in den 30er Jahren mit Hormonen, um Homosexualität zu heilen. 1938 wurde ein offizielles dänisches Institut for Racehygiejne og Eugenik gegründet, das sich erst 1984 (!) in (Erbbiologisches) Arvebiologisk Institut umbenannte.

Bis 1969 wurden exakt 1.012 Sexualdelinquenten aufgrund dieses Gesetzes kastriert, darunter viele Homosexuelle, speziell im Zuge einer riesigen Hexenjagd Mitte der 50er Jahre: Hunderte Homosexuelle wurden im Rahmen einer sogenannten Pornographie-Affäre um Axel Axgil, den ersten Vorsitzenden des 1948 gegründeten Homosexuellenverbandes Forbundet af 1948 (heute LBL – Landsforeningen for bøsser og lesbiske), verhaftet. Hinter dieser Kampagne, die 1961 auch zu Gesetzesverschärfungen führte, stand ein hochrangiger Polizeibeamter namens Jens Jersild. Sein Name ist heute noch Synonym für die für Schwule und Lesben finstersten Jahre der Nachkriegszeit. Das Kastrationsgesetz wurde 1935 (!) um rassehygienische und eugenische Gründe erweitert. Aufgrund dessen kam es bis 1967 zu rund 10.000 weiteren Kastrationen an Behinderten, sogenannten Asozialen und Zigeunern.

 

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

In den 40er Jahren kam schließlich eine andere Methode zur Ausmerzung alles Abweichenden und daher auch zur „Therapie“ der Homosexualität auf: die Lobotomie und später die Stereotaxie – hirnchirurgische Eingriffe.8 Auch bei dieser Mode war Dänemark Weltspitze – und einer der führenden Ärzte, der diese Eingriffe massenhaft vornahm und dabei Karriere machte, war Kjeld Per Værnet, der älteste Sohn des SS-Arztes und Hormonforschers. Er saß auch im Organisationskomitee der 2. Internationalen Konferenz über Hirnchirurgie, die in Dänemark stattfand, und redigierte den 1972 erschienenen Tagungsband, der Beiträge enthielt wie The stereotaxic treatment of paedophilic homosexuality and other sexual deviations. Værnet junior ist übrigens Träger u. a. des dänischen Dannebrog- und des isländischen Falkenordens.

Obwohl die Risiken und die Mißerfolge dieser Methode von Anfang an unübersehbar waren – in Norwegen etwa endeten 18 der ersten 35 Eingriffe für die Patienten tödlich! – sollte es bis spät in die 70er Jahre dauern, bis diese Art der Gehirnchirurgie endgültig in Verruf geriet und eingestellt wurde. In Dänemark fand der letzte Eingriff dieser Art 1981 statt, das Land verzeichnete mit 3.500 Eingriffen die höchste Rate umgerechnet auf die Einwohnerzahl. In Norwegen wurden 2.500, in Schweden 3.300 Operationen durchgeführt. In Norwegen und Schweden hat es mittlerweile eine öffentliche Aufarbeitung und Ethik-Debatte über diese medizinischen Versuche und fragwürdigen Behandlungszwecke gegeben, ebenso über die Massen-Zwangssterilisationen und Massen-Zwangskastrationen (60.000 in Schweden!) zwischen 1930 und 1980. In Norwegen wurde an jedes Lobotomie-Opfer eine Entschädigung in der Höhe von 100.000 Kronen gezahlt. In einer Dokumentation des schwedischen Fernsehens von 1998 wurde der Fall einer Lesbe präsentiert, die durch Lobotomie von ihrer Homosexualität geheilt werden sollte.

In Dänemark haben die Lobotomie-Opfer bisher noch keine Entschädigung erhalten. Værnet junior trat jedenfalls mit seinen höchst fragwürdigen Gehirnoperationen durchaus in die Fußstapfen seines Vaters, denn zwischen diesen Lobotomie-Eingriffen und den KZ-Versuchen des SS-Arztes besteht in Wahrheit kein signifikanter Unterschied – sieht man davon ab, daß der Hirnchirurg seine medizinischen Experimente in viel größerem Stil als sein Vater durchführte und damit dessen Verbrechen noch in den Schatten stellte. Zynisch könnte man sagen, Værnet senior hat einfach Pech gehabt, weil er aufs falsche Pferd, die Nazi, gesetzt hat.

1990 griff das dänische Fernsehen in einer Dokumentation das Thema auf und enthüllte den Umfang des dänischen Lobotomie-Skandals. Im Interview tat Kjeld Værnet die Reporterfrage, ob er die Lobotomie jemals an Homosexuellen durchgeführt hätte, entrüstet als „absurd“ ab. Die TV-Doku löste in Dänemark einen kurzlebigen Aufschrei der Empörung aus. Kjeld Værnet weigerte sich jedoch, zur Sendung Stellung zu nehmen. Heute lebt der 79jährige in Hellerup, einem noblen Viertel im Norden Kopenhagens.

Daß die eugenischen bevölkerungspolitischen Ansätze gerade in Skandinavien auf so fruchtbaren Boden fielen, ist sicherlich auch auf die ausgeprägte sozialdemokratische Ideologie zurückzuführen, bessere Menschen heranzubilden. Abseits von Rassenwahn und Herrenmenschentum wollte die alles umsorgende Mutter Sozialdemokratie Krankheiten und „Abnormitäten“ eliminieren. Leider war sie dabei wohl zu fanatisch und zuwenig fürsorglich – und auch zu undemokratisch. Es gab zuwenig Kontrolle, der Staat entmündigte seine BürgerInnen und gewährte ihnen zuwenig Mitsprache. Jetzt ist Vergangenheitsbewältigung und lückenlose Aufklärung dieser Vorfälle angesagt. Und in eine solche Ethik-Debatte platzte im Juli 1999 – zum genau richtigen Zeitpunkt – die Værnet-Sache. Schon im Februar 1999 hatte der Arzt Niels Høiby eine solche Debatte, der man sich offen stellen müsse, angesichts der Skandale um all diese menschenverachtenden medizinischen Versuche eingefordert und auch ausgelöst – und dabei einen ganz trivialen Aspekt angesprochen: Die meisten haben die Tendenz, die Augen zu verschließen und Leute wie Carl Peter Værnet als Monster zu betrachten, obwohl viele von ihnen in Wirklichkeit relativ normale Ärzte waren, die bloß aufgrund ihres hemmungslosen Ehrgeizes nicht im Stande waren, nein zu sagen. Steht also zu hoffen, daß solche Debatten ähnliche Menschenversuche durch ehrgeizige Ärzte in Zukunft verhindern werden und daß auch die letzten Dokumente bald zugänglich gemacht und alle Fakten ans Tageslicht kommen werden – das ist wohl das mindeste, was man den Opfern der Ärztedynastie Værnet schuldig ist. – Obwohl: Dänemark ist heute wieder führend bei der chemischen Kastration von Sexualverbrechern…

 

Anmerkungen und Fußnoten:

Bei den kursiv gesetzten Passagen handelt es sich um durch den Autor dieses Beitrags aus dem Dänischen übersetzte Originalzitate.

1 In erster Linie durch den Internationalen Suchdienst in Arolsen und folgende Bücher und TV-Dokumentation:

Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. 1946, zahlreiche Neuauflagen (München) seither;

Hans-Georg Stümke: Homosexuelle in Deutschland. Verlag C. H. Beck, München 1989;

Burkhard Jellonnek: Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich. Ferdinand Schöningh-Verlag, Paderborn 1990;

Wolfgang Röll: Homosexuelle Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald. Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald 1991;

Norddeutscher Rundfunk: TV-Dokumentation Wir hatten ein großes A am Bein, 1991;

Günter Grau: Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung. Fischer-Taschenbuchverlag, Frankfurt/Main 1993.

 

2 Endokrinologie: Lehre von der Funktion endokriner (ins Blut absondernder) Drüsen und der Hormone.

 

3 Eugenik (oder Eugenetik): Erbgesundheitsforschung, Anwendung der Humangenetik auf Bevölkerungen: Begünstigung der Fortpflanzung sogenannter Gesunder und die Verhinderung der Fortpflanzung sogenannter Kranker. Führte in der NS-Zeit zur Ausmerzung sogenannten „lebensunwerten“ Lebens. Sowohl vor als auch nach dem 2. Weltkrieg führten die Bemühungen, Menschen, denen erbliche Minderwertigkeit zugeschrieben wurde, an der Fortpflanzung zu hindern, zu Sterilisierungen, Kastrationen und Lobotomie-Operationen in großem Stil an Menschen, die in irgendeiner Form von der Norm abwichen, darunter an vielen Lesben und Schwulen.

 

4 Harly Foged/Henrik Krüger: Flugtrute Nord. Nazisternes hemmelige flugtnet gennem Danmark. Verlag Bogan, Lynge 1985. Nach dem Zerfall des Dritten Reichs etablierten sich zwei Fluchtrouten für die Nazi-Kriegsverbrecher von Europa nach Südamerika: die Fluchtroute Nord über Dänemark und Schweden und die Süd-Route über den Vatikan.

 

5 Günter Grau: Hidden Holocaust? Gay and Lesbian Persecution in Germany 1935-45. Verlag Cassell, London/New York 1995.

 

6 Richard Plant: The Pink Triangle. The Nazi War against Homosexuals. Verlag Henry Holt & Co, New York 1986. Deutsch: Rosa Winkel. Der Krieg der Nazis gegen die Homosexuellen. Campus-Verlag, Frankfurt/Main 1991.

 

7 Ein spannender und geradezu unglaublicher Bericht über die teils abenteuerliche, teils triviale Flucht von vielen Nazi-Größen und mit vielen Details dieses Fluchtnetzes sowie über die Verbindungen zu Argentinien unter Perón findet sich natürlich im Buch von Foged und Krüger (siehe Fußnote 4).

 

8 Diese hirnchirurgischen Eingriffe sind heute in Vergessenheit geraten – Lobotomie und Stereotaxie finden sich nicht einmal mehr als (zumindest historische) Einträge im Pschyrembel, obwohl sie zu den größten Irrungen der modernen Medizingeschichte gezählt werden müssen und über Jahrzehnte hinweg unbeschreibliches Leid über zehntausende Menschen gebracht haben. Zu den größten Opfergruppen dieser Eingriffe zählten Homosexuelle. Viele Eingriffe endeten tödlich oder mit bleibenden Hirnschäden, viele PatientInnen vegetierten nach den Operationen als „Zombies“ dahin.

„Pionier“ der Lobotomie war der portugiesische Arzt Egas Moniz (1874–1955), der 1935 erstmals eine solche Operation durchführte und 1949 für diese Methode sogar den Medizin-Nobelpreis bekam! Bald wurde Lobotomie als Allheilmittel für allerlei Störungen angesehen. Der US-Arzt Walter Freeman führte in den 40er Jahren nicht weniger als 4000 Lobotomie-Eingriffe aus.

Einen aufwühlenden Roman über ein schwules Lobotomie-Opfer hat übrigens der französische Autor Yves Navarre veröffentlicht: Le jardin d’acclimatation. Verlag Flammarion, Paris 1980; in deutscher Übersetzung von Christel Kauder: Vorbeugender Eingriff. Verlag Beck & Glückler, Freiburg 1988.