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ZiB-2-History – ORF-Faktencheck hat total versagt

Veröffentlicht am 17. Juni 2022

Martin Thür

Sehr geehrter Herr Thür!

Grundsätzlich ist es sehr erfreulich, dass der ORF die ZiB-2-History-Sendung „Paragraphen gegen die Liebe“ vom 15. Juni 2022 dem „langen Kampf um LGBT-Gleichberechtigung“ in Österreich gewidmet hat. Gewohnt sympathisch haben Sie durch die Sendung geführt, und Ihre Redaktion hat sich um eine abwechslungsreiche Gestaltung bemüht. Als Aktivist der Schwulen- und Lesbenbewegung, der rund 40 Jahre lang an vorderster Front mitgekämpft hat und die Geschichte dieses Kampfes genauestens kennt, kann ich Ihnen zu diesem Beitrag jedoch leider nicht gratulieren, da er wesentliche historische Fakten ignoriert bzw. sehr einseitig darstellt. Er scheint mir generell ziemlich oberflächlich recherchiert zu sein. Zudem haben etliche der interviewten Personen unrichtige Aussagen getätigt – nicht zuletzt provoziert durch Fragen mit unrichtigem Inhalt.

Ihre Redaktion wäre gut beraten gewesen, den Beitrag einem Faktencheck durch jemanden zu unterziehen, der/die über entsprechende Expertise auf diesem Gebiet verfügt. Man hätte dann auf einige Passagen verzichten können und den interviewten Personen sowie den Interviewern (!) damit sicher einen Gefallen getan, denn ihnen ist es im nachhinein vermutlich peinlich, aus Unwissenheit – oder weil ihnen die Erinnerung einen Streich gespielt hat – Falschinformationen verbreitet zu haben. Einige konkrete Beispiele dazu später.

Vorerst eine grundsätzliche Bemerkung: Es ist schon erstaunlich, ja eigentlich ein ziemlich starkes (Kunst-)Stück, in einem 42-minütigen Beitrag über den jahrzehntelangen Kampf für die Emanzipation und Gleichberechtigung von Lesben und Schwulen die Homosexuelle Initiative (HOSI) Wien, die in den letzten 43 Jahren kontinuierlich und ununterbrochen die Haupt-Lobbyingarbeit in diesem Kampf geleistet hat, mit keinem einzigen Wort zu erwähnen (ihr Name ist gerade einmal kurz auf einem Transparent zu lesen)! Abgesehen von diesem Affront gegenüber der HOSI Wien (und auch anderen Vereinen) und ihren hunderten AktivistInnen, die sich im Laufe der Zeit in der Bewegung engagiert haben, trifft das ständig wiederholte und von gewissen Personen aus leicht durchschaubaren Gründen einseitig tradierte Narrativ, alle Verbesserungen und Erfolge im Kampf für rechtliche Gleichstellung seien ausschließlich durch die Höchstgerichte erfolgt, in dieser Verallgemeinerung überhaupt nicht zu. Etliche Reformen waren sehr wohl das Ergebnis erfolgreicher Überzeugungsarbeit der Bewegung bei MinisterInnen, Abgeordneten und anderen PolitikerInnen.

Zu diesen Meilensteinen, die sich die Bewegung auf politischer Ebene (Parlament) ausschließlich durch ihre Lobbyarbeit erkämpft hat, zählt etwa die Abschaffung der drei anderen strafrechtlichen Sonderparagraphen § 210, 220 und 221 StGB, die gemeinsam mit § 209 im Zuge der Abschaffung des Totalverbots 1971 eingeführt worden waren. Das Vereins- und das Werbeverbot waren ja auch keine Lappalien; sie wurden 1996 nach intensivem Lobbying abgeschafft. Diesen wichtigen Kampf überhaupt nicht zu erwähnen scheint mir sehr willkürlich. Dass 2005 die homosexuellen NS-Opfer endlich im Opferfürsorgegesetz berücksichtigt wurden, war ebenfalls keinem Gericht zu verdanken, sondern lediglich politischem Lobbying über 20 Jahre hinweg, das in diesem Fall ausschließlich von der HOSI Wien betrieben wurde.

Zudem ist die Vorstellung doch etwas naiv, (Reformen durch) höchstgerichtliche Entscheide passierten einfach im „luftleeren Raum“, ohne dass gesellschaftliche, politische und mediale Diskussionen dabei eine Rolle spielten. Die Höchstgerichte hätten wohl nicht im Sinne der Bewegung entschieden, wäre nicht zuvor durch deren jahrelange Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit das Bewusstsein in der breiten Bevölkerung für diese Reformen aufbereitet worden. Und es wird wohl niemand ernsthaft bestreiten wollen, dass die HOSI Wien hier federführend war.

Jedes der großen Gesetzesprojekte, die die Bewegung in Österreich durchgesetzt hat, hat bis zur Umsetzung mehr als 20 Jahre konsequentes Lobbying erfordert. Die Rolle, die dabei die HOSI Wien in den relevanten vier Jahrzehnten gespielt hat, können Sie übrigens jeweils im Detail in ausführlichen Chroniken auf meiner Homepage nachlesen:

zur Strafrechtsreform

zur eingetragenen Partnerschaft und Eheöffnung

zur Antidiskriminierungs-Gesetzgebung

zur Anerkennung homosexueller NS-Opfer.

Besonders problematisch ist Ihre einseitige Sichtweise, Reformen und Erfolge seien ausschließlich den Höchstgerichten zu verdanken, im Falle der Einführung der eingetragenen Partnerschaft (EP) 2009. Die diesbezügliche Darstellung in Ihrem Beitrag muss man regelrecht als Geschichtsfälschung bezeichnen. Grund für die Einführung war keineswegs, wie Helmut Graupner dies gerne erzählt, der Umstand, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Republik Österreich in der Beschwerde Schalk & Kopf zur Anhörung geladen hatte. Die Annahme, Österreichs Regierung (damals Faymann/Pröll) hätte in Panik deswegen ganz schnell die EP eingeführt, widerspricht ja besagter Behauptung, Österreichs Politik ließe sich erst durch die Höchstgerichte zu Reformen bewegen. Noch dazu war in diesem Fall davon auszugehen, dass der EGMR die fehlende Möglichkeit, in Österreich eine gleichgeschlechtliche Ehe zu schließen, nicht als Konventionsverletzung verurteilen würde. Dafür war es viel zu früh, denn der EGMR berücksichtigt in seiner Rechtsprechung gerade in gesellschaftspolitischen Fragen einen europäischen Mainstream-Konsens. 2009 gab es die gleichgeschlechtliche Ehe gerade einmal in fünf der damals noch 47 Mitgliedsstaaten des Europarats. Die HOSI Wien, die diese Beschwerde in Straßburg unterstützte, rechnete daher gar nicht damit, dieses Verfahren zu gewinnen. Tatsächlich wies der EGMR die Beschwerde 2010 ab. In mindestens drei weiteren Fällen aus Griechenland, Italien und Frankreich hat der EGMR seither entschieden, dass es durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht geboten sei, die Ehe grundsätzlich für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen. Eine solche Entscheidung steht also noch aus, was aus besagtem Grund nicht weiter verwunderlich ist: Auch heute haben erst 17 der nunmehr 46 Europaratsstaaten die Ehe für alle geöffnet.

Besagter Anhörungstermin in Straßburg spielte damals jedenfalls keine Rolle. Es war nicht mehr als ein zeitlicher Zufall. Die Einführung der EP 2009 war vielmehr das Ergebnis von über 20 Jahren Lobbyingarbeit der HOSI Wien – siehe Link zur entsprechenden Chronik oben. Zur Vorgeschichte: Nach der Wahlniederlage 2006 leckte die ÖVP ihre Wunden. Die vom Parteivorsitzenden Josef Pröll initiierte Perspektivengruppe hatte der ÖVP einen Modernisierungsschub verordnet, wozu eben auch die „Forderung“ nach rechtlicher Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften zählte. Nach der neuerlichen Niederlage bei den Neuwahlen 2008 wurde Pröll Vizekanzler, Faymann Kanzler. Die Schaffung einer rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften wurde (erstmals) ins gemeinsame Regierungsprogramm der großen Koalition aufgenommen. Diese Grundlage geschaffen zu haben ist das Verdienst von Faymann bzw. der SPÖ. Die ÖVP konnte nicht mehr aus, und unter Pröll war sie auch bereit zu diesem Schritt. Ab 2007 wurde auch in den Ministerien daran gearbeitet. Es gab etliche Treffen zwischen VertreterInnen der Ministerien und der gesamten LSBT-Bewegung. Das Gesetz von 2009 wurde also von langer Hand über mehrere Jahre vorbereitet und war keineswegs ein „Schnellschuss“, wie es in Ihrem Beitrag heißt! Die intensiven und zahlreichen Aktivitäten in den drei Jahren vor der Verabschiedung des Gesetzes können Sie in der erwähnten Chronologie ab dem Jahr 2007 nachlesen. Ihre Darstellung im Beitrag muss daher in der Tat als Geschichtsfälschung bezeichnet werden.

Ein Grund, warum Graupner dieses lächerliche Narrativ vom EGMR-Termin ständig erzählt, ist, dass er mit seinem Rechtskomitee Lambda auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Es war völlig unrealistisch zu erwarten, dass es mit der ÖVP eine Eheöffnung geben könnte. Die HOSI Wien war da realistisch genug und bereit, sich mit der EP vorerst zufriedenzugeben, zumal sie aus anderen Gründen die EP einer Eheöffnung vorzog. Da Graupner, die Grünen und der Großteil der LSBT-Bewegung bis zum Schluss gegen die EP protestierten und diese verhindern wollten, mit ihrer Forderung nach einer Öffnung der Ehe aber völlig Schiffbruch erlitten, konnte die HOSI Wien dann quasi allein die Trophäe EP einheimsen. Das hat Graupner wohl immer geärgert, und so hat er diesen Unsinn mit dem EGMR-Termin in die Welt gesetzt, um der HOSI Wien ihren Erfolg madig zu machen. Da sind Sie ihm leider auf den Leim gegangen. Siehe dazu auch meinen Beitrag in den LN 6/2009.

Die Geschichte hat der HOSI Wien und ihrer Strategie dann in allen Aspekten recht gegeben: Die Amtszeit Prölls war sehr kurz und damit das Fenster der Gelegenheiten nicht sehr lange offen. Ohne die EP hätte der VfGH aus argumentativen Gründen die Ehe- und EP-Öffnung für alle dann acht Jahre später gar nicht dekretieren können, und daher hätten wir, so steht zu vermuten, wohl heute noch keine Ehe für alle! Ich beschreibe dies detailliert in meinem Blog-Beitrag aus Anlass des 10-Jahr-Jubiläums der EP-Einführung.

Es gäbe hier noch viele Details anzuführen, aber das führt wohl zu weit. Noch eine Korrektur Ihres Beitrags: Die Möglichkeit, eine EP am Standesamt einzugehen, wurde in der Folge übrigens ebenfalls vom Parlament geschaffen und nicht durch ein Erkenntnis eines Höchstgerichts! Und noch eine Anmerkung: Die durch das Parlament verabschiedete EP war für viele Paare zehn Jahre lang ein äußerst wichtiger Meilenstein und erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit – nicht nur bei heterosexuellen Paaren. Viele Paare ziehen nach wie vor die EP der Ehe vor!

 

Hier noch weitere konkrete Beispiele von nicht korrekten Aussagen/Darstellungen:

Beispiel 1 – § 209 StGB: Jürgen Pettinger führt Jogy Wolfmeyer mit seiner (ganz am Ende des Interviews) suggestiv gestellten Frage, ob § 209 und die Verfolgung daraus noch Jahre lang weiterbestanden, aufs Glatteis. Wolfmeyer reagiert etwas skeptisch, bekräftigt die Frage dann allerdings zögerlich, wobei er das Wort „Jahre“ nicht wiederholt. Jedenfalls stimmt es nicht: § 209 trat am 14. August 2002 endgültig außer Kraft – also weniger als zwei Monate nach dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs! Es wurden zwar mit dem neuen § 207b StGB neue Tatbestände zum Schutz von Jugendlichen geschaffen, aber diese gelten seither für alle Geschlechter und sexuellen Orientierungen und sind heute nicht mehr umstritten. Anfangs bestand die Sorge, auch bei der HOSI Wien, dass es sich beim § 207b bloß um einen Ersatzparagrafen handeln könnte, der von den Gerichten nur gegen Schwule eingesetzt werden würde. Später stellte sich dann aber beispielsweise heraus, dass ohne § 207b Freier von minderjährigen weiblichen (Zwangs-)Prostituierten nicht verfolgt werden hätten können (nur die Mädchen machten sich wegen illegaler Prostitution strafbar!). Die HOSI Wien hat daher später ihre Kritik an § 207b aufgegeben.

Beispiel 2 – Umwandlung einer EP in eine Ehe: Hier haben Sie, lieber Herr Thür, ebenfalls nicht ausreichend und richtig recherchiert. (Homo-)Paare, die sich bereits vor der Öffnung der Ehe für alle (1. 1. 2019) verpartnert haben, können ihre EP problemlos in eine Ehe umwandeln lassen. Das Hin-und-Herwechseln zwischen EP und Ehe ist nur für alle später geschlossenen Verbindungen nicht so einfach möglich, betrifft aber gleich- und verschiedengeschlechtliche Paare gleichermaßen. Siehe Infos hier.

Justizministerin Alma Zadić ist offenbar hier nicht im Detail informiert gewesen und bestätigt Ihre falsche Behauptung in der Interviewfrage. Zadić nennt außerdem als Beispiel für Diskriminierung, dass Menschen „einen Arbeitsplatz nicht einnehmen dürfen, weil sie bekennend schwul oder lesbisch“ seien. Das ist natürlich haarsträubender Unsinn und hätte nicht unhinterfragt oder ohne Richtigstellung in den Beitrag genommen werden dürfen. Insgesamt jedenfalls ziemlich unprofessionell und peinlich – sowohl für Sie als auch für die Ministerin.

Beispiel 3 – Levelling-up im Gleichbehandlungsrecht: Als Katharina Kacerovsky-Strobl dann – ohnehin als dritte oder vierte der zu Wort kommenden Personen – ebenfalls versucht, den fehlenden Diskriminierungsschutz zu erklären, geht das leider neuerlich schief. Die Diskriminierung besteht im unterschiedlichen Schutzniveau für die verschiedenen Gruppen. Während für den Bereich der Arbeitswelt alle in der entsprechenden EU-Richtlinie angeführten Merkmale berücksichtigt sind, geht es jetzt beim Levelling-up konkret darum, den gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung, wie er in anderen Bereichen (Zugang zu und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich Wohnraum; Sozialschutz, einschließlich der sozialen Sicherheit und der Gesundheitsdienste; soziale Vergünstigungen; Bildung) bereits für ethnische Herkunft, Geschlecht und Behinderung besteht, auf die Merkmale Alter, Religion und sexuelle Orientierung auszuweiten (vgl. Blog-Beitrag vom 3. Februar 2020). Es trifft also genau nicht zu, wie Kacerovsky-Strobl in ihrem Beispiel behauptet, dass jemand wegen religiöser Überzeugung besser vor Diskriminierung (Verweigerung der Beförderung im Taxi oder der Vermietung einer Wohnung) geschützt sei als wegen sexueller Orientierung.

All diese kleinen und großen, auf jeden Fall sehr peinlichen Schlampereien und Fehler sowie die objektiv nicht haltbare Darstellung, wie es zur eingetragenen Partnerschaft kam, wären vermeidbar gewesen. In diesem Zusammenhang darf ich Ihnen bzw. Ihren ORF-KollegInnen für zukünftige Beiträge und Recherchen auf diesem Gebiet gerne meine Expertise anbieten. Als Mitarbeiter der HOSI-Wien-Zeitschrift LAMBDA-Nachrichten habe ich 39 Jahre lang über die politischen Entwicklungen in Sachen LSBT-Gleichberechtigung ausführlich berichtet – und dies sehr oft aus erster Hand, da ich viele dieser Entwicklungen als Aktivist und Akteur mitgestaltet habe. Sie können sich dazu auf meinem Website informieren und sich selbst einen Überblick über diese Expertise verschaffen, etwa auf einer Zeitreise durch mein Engagement über vier Jahrzehnte.

2 Kommentare

  1. B

    Danke, Kurt, für diese ausführliche Richtigstellung der LGBTIQ-Geschichte Österreichs. Habe diesen ORF-Bericht ja nicht gesehen – und offensichtlich auch nichts versäumt. Aber was für eine Blamage des ORF! Da ist es ja besser, es gibt gar keinen Bericht.

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  2. D

    Ach Kurt, wir lieben Dich! (Wir ist diesfalls nicht pluralis majestatis, sondern ich und etliche andere Menschen, von denen ich das sicher weiß.) Habe den Beitrag gesehen und mich einerseits geärgert, weil HOSI Wien gar nicht vorkommt – und auch über diese Höchstgericht-Graupner-Lobhudelei. Verschiedene Details sind mir gar nicht aufgefallen…
    Auch wenn Du da sehr streng bist, aber recht hast!
    Dieter

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