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Achtung Falle: Koalitionsfreier Raum und Klubzwang

LOSE SERIE: AUS DER GESCHICHTE LERNEN

Veröffentlicht am 21. November 2019

Derzeit befinden sich die Grünen in Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP. Wenig hört man aus diesen Verhandlungen, offenbar haben sich die Grünen schon vor einer etwaigen Koalition in vorauseilendem Gehorsam dem Diktat der ÖVP unterworfen. Anders ist diese unangemessene Geheimniskrämerei und totale Funkstille über die Inhalte der Verhandlungen nicht zu erklären.

Vermutlich nicht nur ich wüsste hingegen gerne, wie es dabei mit den LSBT-Forderungen ausschaut. Sind sie überhaupt Thema bei den Verhandlungen? Sind sie Koalitionsbedingungen? Werden sie in einen möglichen koalitionsfreien Raum ausgelagert und damit einem Begräbnis letzter Klasse zugeführt? Warum gibt dazu überhaupt keine Infos? Wieso halten die Grünen allfällige Pläne und Absichten in dieser Hinsicht im Dunkeln?

 

Koalitionsgehorsam

Nicht, dass man die Grünen vor der ÖVP extra warnen müsste. Sie kennen sie ja ohnehin nur zu gut. Allerdings steht zu befürchten, dass sie dieses Wissen in der Vorfreude und Euphorie über eine eventuelle Regierungsbeteiligung vergessen und verdrängen. Daher habe ich ein paar Episoden und Anekdoten aus jüngster Vergangenheit „ausgegraben“, um unser aller Erinnerung an so manche unappetitliche und antidemokratische Verhaltens- und Vorgangsweise der ÖVP aufzufrischen. Was Koalitionsgehorsam in einer Regierung mit der ÖVP bedeuten kann, werden die Grünen im Fall des Falles dann noch früh genug am eigenen Leib erfahren.

Blenden wir also zurück ins Jahr 1995, in die Zeiten der rot-schwarzen großen Koalition. Am 1. Juni debattierte der Nationalrat den Antrag der Grünen, die homosexuellen NS-Opfer ins Opferfürsorgegesetz aufzunehmen. Da es darüber keine Vereinbarung im Koalitionsvertrag gab und grundsätzlich vereinbart war, den Koalitionspartner nicht zu überstimmen, erwartete die ÖVP als Juniorpartnerin in der Koalition selbst in dieser Frage absolute Koalitionsräson der SPÖ-MandatarInnen. Diese hatten aber gerade in dieser Sache größte Gewissenskonflikte.

Und dann passierte etwas schier Unglaubliches und in der fast 15-jährigen Geschichte der großen Koalition von 1986 bis 1999 Einmaliges: 55 der 60 anwesenden (von insgesamt 65) SPÖ-Abgeordneten probten den Aufstand und verweigerten die Koalitionstreue. Offenbar war das Maß voll und die Grenzen der Selbstverleugnung, die ihnen von der ÖVP abverlangt wurde, erreicht. Sie stimmten für den grünen Antrag, der allerdings keine Mehrheit fand. Es war eine der ganz seltenen Sternstunden des österreichischen Parlamentarismus, bei der sich die Abgeordneten – zumindest der SPÖ – in einer solchen Frage als tatsächlich freie MandatarInnen erwiesen, die sich nur ihrem Gewissen verpflichtet fühlten.

Im Gegensatz zu den ÖVP-Abgeordneten. Da der rechte Block aus ÖVP und FPÖ nur fünf Mandate mehr als der linke aus SPÖ, Grünen und LiF hatte, wäre der Antrag durchgegangen, wenn sich nur drei ÖVP-MandatarInnen dem ÖVP-Klubzwang ebenfalls widersetzt hätten. Das galt es für den fanatischen Klubobmann Andreas Khol mit allen Mitteln zu verhindern: Er kontrollierte mit Stricherlliste das Abstimmungsverhalten der ÖVP-Abgeordneten – beklemmend, unwürdig und schäbig, in einer solchen Frage die Klubpeitsche zu schwingen. Ein Mitarbeiter des SPÖ-Klubs berichtete, dass der ÖVP-Abgeordnete Franz Morak von Khol sogar mit physischer Gewalt daran gehindert wurde, den Ja-Stimmzettel zur Wahlurne zu tragen, was Morak indes dementierte. Ein ausführlicher Bericht dazu findet sich in den LAMBDA-Nachrichten 3/1995, S. 12 ff, und in meinem Beitrag – inklusive Zitate aus der Nationalratsdebatte – hier.

 

Klubzwang

Dieses jämmerliche Schauspiel wiederholte sich am 27. November 1996, als im Nationalrat über die Aufhebung der drei Strafrechtsparagrafen 209 (höheres Mindestalter) sowie 220 und 221 (Werbe- und Informationsverbot) abgestimmt wurde.

Durch die vorgezogenen Neuwahlen im Dezember 1995 war der Überhang des rechten Blocks von fünf auf drei Mandate und damit wieder auf den Stand von 1990 zusammengeschrumpft. Die große rot-schwarze Koalition wurde weitergeführt. Am 7. März 1996 wurde ein neuer Koalitionspakt zwischen SPÖ und ÖVP geschlossen – die Paragrafenreform wurde darin ausdrücklich als Materie für den koalitionsfreien Raum festgelegt. Dass ein solcher indes nur Sinn hat, wenn beide Koalitionsparteien für ihre MandatarInnen den Klubzwang aufheben und die Abstimmung freigeben, wurde bei dieser Gelegenheit nur allzu deutlich.

Die ÖVP wollte aber die Aufhebung des § 209 mit allen Mitteln verhindern. Es stand 93 zu 90 Mandaten. Betonkopf Andreas Khol hatte daher wieder alle Hände voll zu tun, den Klubzwang in seiner Fraktion durchzusetzen. Die Abstimmung endete mit einem Patt, 91 zu 91 Stimmen, der Antrag fiel daher mangels Mehrheit durch. Von der FPÖ hatte nur Harald Ofner für den Antrag gestimmt. Er hatte sich zuvor stets für die Abschaffung des § 209 ausgesprochen und bereits am 14. November 1989 als FPÖ-Justizsprecher bei einer Podiumsdiskussion auf der Uni Wien gemeint: „In einem Jahr wird es die hier besprochenen drei Bestimmungen nicht mehr geben!“ Bekanntlich sollte es im Falle des § 209 noch dreizehn Jahre, bis 2002, dauern.

Diesmal wollte sich jedenfalls ÖVP-Abgeordneter Franz Morak nicht mehr beugen, er stimmte als einziger seiner Fraktion für die Abschaffung des § 209. Da hatte Khol aber ohnehin genau kalkuliert – ein einziger ÖVP-Dissident plus Ofner konnten die Ablehnung des Antrags noch nicht verhindern. Aber jede weitere Stimme hätte dem Antrag zur Mehrheit verholfen. Khol musste daher alle anderen potentiellen DissidentInnen in der Partei umso mehr unter Druck setzen. Letztlich herrschte im ÖVP-Klub die nackte Existenzangst: ÖVP-Abgeordnete Ridi Steibl, die um ihren Job fürchtete und daher gegen ihr Gewissen stimmte, brach darob laut grünen Augenzeugenberichten in Tränen aus.

Die §§ 220 und 221 wurden übrigens bei dieser Gelegenheit abgeschafft, wobei die ÖVP dagegen stimmte. Ein ausführlicher Bericht dazu findet sich in den LAMBDA-Nachrichten 1/1997, S. 8 ff (vgl. die Chronologie zur Strafrechtsreform).

 

Drohung mit Verschärfung

Wiewohl im Koalitionsübereinkommen ein koalitionsfreier Raum in dieser Frage vereinbart worden war, unternahm die ÖVP alles, um der SPÖ die Lust am „Fremdgehen“ mit der Opposition auszutreiben, und führte sich – wie stets – so auf, als sei sie die stärkere der Regierungsparteien, dabei hatte sie zu diesem Zeitpunkt 19 Mandate weniger als die SPÖ (52:71).

Klubobmann Khol drohte etwa, eigene Anträge zur Verschärfung des § 209 einzubringen. Und in der Tat hat die ÖVP schließlich sogar Anträge auf Verschärfung des Vereins- und Informationsverbots (§§ 220 und 221 StGB) im Justizausschuss eingebracht (wo sie allerdings keine Mehrheit fanden).

 

Koalitionsfreier Raum ist selbstgestellte Falle

Damals wütete ich in meinem Kommentar in den LN 3/1996 gegen die SPÖ und geißelte ihren lahmarschigen Einsatz für die schwul/lesbische Sache:

Aufgrund des Verhaltens der ÖVP nach den Wahlen 1994 und speziell auch vor den Wahlen 1995 (Ablehnung einer Abstimmung über die Paragraphen in der Nationalratssondersitzung) mußte der SPÖ klar sein, daß nur eine Vereinbarung im Koalitionspakt die ÖVP zur Aufhebung der Paragraphen zwingen könnte. Aber natürlich war der SPÖ die Sache nicht wichtig genug, undenkbar für sie, die Koalitionsverhandlungen an dieser Frage scheitern zu lassen! Die SPÖ wähnte sich dann besonders schlau, die Frage zum koalitionsfreien Raum gemacht zu haben – und wollte das der Lesben- und Schwulenbewegung sogar als hart errungenen Sieg verkaufen. Dabei war der Hintergedanke wohl: Hauptsache, es gibt eine Abstimmung im Parlament. Wenn F und ÖVP sich gegen die Ampelparteien in dieser Frage durchsetzen, Pech für die Lesben und Schwulen eben, wir, die SPÖ, können dann nichts dafür und waschen unsere Hände in Unschuld. Wir haben eben keine Mehrheit für unseren Antrag gefunden! Daß sie aber von der viel trickreicheren ÖVP einmal mehr über den Tisch gezogen worden waren, dämmerte Kostelka & Co. aber wohl erst, als Khol im Frühjahr ÖVP-Pläne lancierte, die Lesben- und Schwulengesetze (vorausgesetzt, die F stimmen zu) zu verschärfen. Und da ja ein koalitionsfreier Raum für diese Frage vereinbart worden war, könnte die SPÖ nicht einmal die Koalitionsfrage stellen, was sie aber wohl ohnehin in dieser für sie so unwichtigen Angelegenheit nie getan hätte.

 

Aus Fehlern gelernt

Die SPÖ sollte später daraus lernen. 2008 hat sie unter Werner Faymann bekanntlich das Projekt „eingetragene Partnerschaft“ in das Koalitionsübereinkommen mit der ÖVP hineinreklamiert und damit die Grundlage für die Verabschiedung des EP-Gesetzes im Dezember 2009 geschaffen (vgl. LN 6/2008, S. 20 f).

Und auch aus jüngster Zeit gibt es ein Beispiel, dass das „freie Spiel der Kräfte“ bei einer rechten Mehrheit im Parlament keine großen Wunder wirkt: Am 29. Juni 2017 scheiterte – wie erinnerlich – bereits der gemeinsame Fristsetzungsantrag von SPÖ, Grünen und NEOS in Sachen Öffnung der Ehe an der Mehrheit von ÖVP, FPÖ und Team Stronach (vgl. Bericht in den LN 3/2017, S. 4 ff).