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EuGH: Kein Diskriminierungsverbot

Veröffentlicht am 15. April 1998
Die Rechtssache Lisa Grant gegen South West Trains war einer jener Fälle, bei denen der Europäische Gerichtshof der Einschätzung des Generalanwalts nicht folgte. Der EuGH stellte fest, dass damals geltendes EU-Recht keinerlei Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung bot. Die Enttäuschung in der europäischen Lesben- und Schwulenbewegung war entsprechend groß. Ich berichtete in den LN 2/1998.

Pressekonferenz zum enttäuschenden EuGH-Urteil im Europa-Parlament am 18. Februar 1998: die Beschwerdeführerinnen LISA GRANT und JILL PERCEY sowie die finnische EP-Abgeordnete Outi Ojala (1946–2017), Initiatorin der EP-„Intergruppe für die Gleichstellung von Schwulen und Lesben“, und ich in meiner Funktion als ILGA-Europa-Vorstandsvorsitzender

Am 17. Februar 1998 veröffentlichte der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in Luxemburg das mit großer Spannung erwartete Urteil in der Beschwerde Lisa Grant gegen South West Trains. Zur großen Enttäuschung der Lesben- und Schwulenbewegung in ganz Europa stellte der Gerichtshof fest, daß das geltende EU-Recht keinerlei Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung gewährt und daß in diesem Fall auch keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vorliegt.

Die LN haben ausführlich über den Fall berichtet (vgl. zuletzt LN 1/1998, 48 f), daher hier nur ganz kurz nochmal, worum es geht: LISA GRANT klagte ihren Arbeitgeber, die britische Eisenbahngesellschaft South West Trains, vor dem Arbeitsgericht Southampton, weil sie für ihre lesbische Lebensgefährtin JILL PERCEY keine Fahrtvergünstigungen erhält, wie sie EhegattInnen und verschiedengeschlechtlichen LebensgefährtInnen von SWT-Angestellten gewährt werden. Sie sieht darin eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und damit eine Verletzung des Artikels 119 EG-Vertrag, der gleiches Entgelt für Frauen und Männer vorsieht. Das Arbeitsgericht wandte sich zur Klärung dieser Rechtsfrage an den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, der für die Auslegung des EU-Rechts zuständig ist. Wie ebenfalls berichtet, hat der dänische Generalanwalt Michael Elmer in seiner Stellungnahme Ende September 1997 die Meinung vertreten, hier liege eindeutig eine Diskriminierung und damit eine Verletzung geltenden EU-Rechts vor. Leider hat sich der Gerichtshof der Meinung des Generalanwalts nicht angeschlossen und folgendes Urteil gefällt:

Die Weigerung eines Arbeitgebers, eine Fahrtvergünstigung für eine Person des gleichen Geschlechts, mit der der Arbeitnehmer eine feste Beziehung unterhält, zu gewähren, während eine solche Vergünstigung für den Ehepartner des Arbeitnehmers oder die Person des anderen Geschlechts, mit der der Arbeitnehmer eine feste nichteheliche Beziehung unterhält, gewährt wird, stellt keine durch Artikel 119 EG-Vertrag oder die Richtlinie 75/117/EWG des Rates vom 10. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen verbotene Diskriminierung dar.

Der Gerichtshof stellte sich folgende Aufgabe: [24.] Angesichts des Akteninhalts ist zunächst die Frage zu beantworten, ob eine in einer Unternehmensregelung aufgestellte Voraussetzung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts des Arbeitnehmers darstellt. Falls dies verneint wird, ist zu prüfen, ob das Gemeinschaftsrecht verlangt, daß feste Beziehungen zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts von jedem Arbeitgeber den Beziehungen zwischen Verheirateten oder festen nichtehelichen Beziehungen zwischen zwei Personen verschiedenen Geschlechts gleichgestellt werden. Schließlich ist die Frage zu beantworten, ob eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts des Arbeitnehmers darstellt.

Und im einzelnen beantwortet der Gerichtshof diese Fragen bzw. begründet seine Antworten wie folgt:

  1. Diese letztgenannte Voraussetzung, wonach der Arbeitnehmer mit einer Person des anderen Geschlechts in einer festen Beziehung zusammenleben muß, um die Fahrtvergünstigungen erhalten zu können, gilt, wie übrigens auch die anderen Voraussetzungen der Regelung des Unternehmens, unabhängig vom Geschlecht des betreffenden Arbeitnehmers. So werden die Fahrtvergünstigungen einem männlichen Arbeitnehmer, wenn er mit einer Person des gleichen Geschlechts zusammenlebt, ebenso verweigert wie einer Arbeitnehmerin, die mit einer Person des gleichen Geschlechts zusammenlebt.
  2. Da die in der Regelung des Unternehmens aufgestellte Voraussetzung für die weiblichen wie für die männlichen Arbeitnehmer in gleicher Weise gilt, kann sie nicht als eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts betrachtet werden.

 

Willkür in der Argumentation

Das klingt zwar einleuchtend, aber es ist recht zynisch zu sagen, es liegt keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vor, weil ja nicht nur lesbische Frauen, sondern auch schwule Männer diskriminiert werden. Überdies agiert hier der Gerichtshof sehr willkürlich, denn er ignoriert völlig das Vorbringen Lisa Grants, daß eine solche Weigerung sehr wohl eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstelle: Ihr Arbeitgeber hätte nämlich eine andere Entscheidung getroffen, wenn die fraglichen Vergünstigungen von einem Mann, der mit einer Frau zusammenlebe, und nicht von einer Frau, die mit einer Frau zusammenlebe, beantragt worden wären. Mit anderen Worten: Wäre Lisa ein Mann, hätte sie die Vergünstigungen für Jill erhalten. Über dieses Argument schwindelt sich der Gerichtshof einfach hinweg, indem er erst gar nicht versucht, es aufzugreifen und dagegen zu argumentieren. Und das ist eigentlich inakzeptabel, weil unredlich.

Weiters stellt der Gerichtshof fest:

  1. Frau Grant macht insbesondere geltend, das Recht der Mitgliedstaaten sowie das der Gemeinschaft und anderer internationaler Organisationen stellten die beiden Fälle immer häufiger einander gleich.
  2. Das Europäische Parlament hat zwar, wie Frau Grant ausführt, erklärt, daß es jede Art von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Neigung eines Menschen bedauere; die Gemeinschaft hat jedoch bisher keine Vorschriften erlassen, die eine solche Gleichstellung vornehmen.
  3. Was das Recht der Mitgliedstaaten angeht, so wird zwar in einigen dieser Staaten die Lebensgemeinschaft zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts der Ehe – wenn auch nur unvollständig – gleichgestellt; aber in den meisten Mitgliedstaaten wird sie den festen nichtehelichen heterosexuellen Beziehungen nur für eine begrenzte Zahl von Ansprüchen gleichgestellt oder ist überhaupt nicht Gegenstand einer ausdrücklichen Anerkennung.
  4. Die Europäische Kommission für Menschenrechte hält daran fest, daß dauerhafte homosexuelle Beziehungen trotz der heutigen Entwicklung der Mentalitäten gegenüber der Homosexualität nicht unter das durch Artikel 8 der Konvention geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens fallen (…) und daß nationale Bestimmungen, die zum Schutz der Familie Verheirateten und solchen Personen verschiedenen Geschlechts, die wie Mann und Frau zusammenleben, eine günstigere Behandlung zuteil werden lassen als solchen Personen des gleichen Geschlechts, die dauerhafte Beziehungen unterhalten, nicht gegen Artikel 14 der Konvention verstoßen, der insbesondere die Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts verbietet.
  5. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im übrigen in einem anderen Zusammenhang Artikel 12 der Konvention so ausgelegt, daß er sich nur auf die herkömmliche Ehe zwischen zwei Personen verschiedenen biologischen Geschlechts beziehe.

 

Konservative Menschenrechtsauslegung

Hier hat der Gerichtshof leider recht. Und die Kritik am Grant-Urteil muß daher auch direkt an die Menschenrechtsinstanzen des Europarats in Straßburg wegen ihrer konservativen Interpretation der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Vergangenheit weitergeleitet werden. Hätten sie die Konvention aus einem breiten Menschenrechtsverständnis heraus ausgelegt, könnte der Luxemburger Gerichtshof jetzt nicht so locker über die Menschenrechte von Lesben und Schwulen drüberfahren und folgenden Schluß ziehen:

  1. Demnach sind beim gegenwärtigen Stand des Rechts innerhalb der Gemeinschaft die festen Beziehungen zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts den Beziehungen zwischen Verheirateten oder den festen nichtehelichen Beziehungen zwischen Personen verschiedenen Geschlechts nicht gleichgestellt. Folglich ist ein Arbeitgeber nach dem Gemeinschaftsrecht nicht verpflichtet, die Situation einer Person, die eine feste Beziehung mit einem Partner des gleichen Geschlechts unterhält, der Situation einer Person, die verheiratet ist oder die eine feste nichteheliche Beziehung mit einem Partner des anderen Geschlechts unterhält, gleichzustellen.
  2. Unter diesen Umständen kann nur der Gesetzgeber gegebenenfalls Maßnahmen treffen, die einen Einfluß auf diese Lage haben können.

 

Unredliche Bewertung

Die Unredlichkeit, mit der der Gerichtshof bestimmte Argumente wertet und andere nonchalant vom Tisch wischt, zeigt sich auch in folgendem Punkt. Lisa Grant argumentierte, daß die Gemeinschaftsbestimmungen über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen ebenso wie einige Bestimmungen des nationalen Rechts oder internationaler Übereinkünfte so auszulegen seien, daß sie die Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung erfaßten, und verwies insbesondere auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) vom 19. Dezember 1966 in dem der Begriff „Geschlecht“ nach Ansicht des gemäß Artikel 28 des Paktes errichteten Ausschusses für Menschenrechte auch die sexuelle Orientierung erfasse (Mitteilung Nr. 488/1992, Toonen/Australien, Feststellungen vom 31. März 1994 – vgl. zu dieser denkwürdigen Entscheidung auch LN 3/1994, S. 56 ff).

Und zu diesem Argument erklärt der Gerichtshof scheinheilig: 44. Dieser Pakt gehört zu den völkerrechtlichen Übereinkünften zum Schutz der Menschenrechte, denen der Gerichtshof bei der Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts Rechnung trägt, um dann gleich im nächsten Absatz einzuschränken: 45. Zwar ist die Wahrung der Grundrechte, die Bestandteil dieser allgemeinen Grundsätze sind, eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Gemeinschaftshandlungen; diese Rechte können jedoch als solche nicht dazu führen, daß der Anwendungsbereich der Bestimmungen des [EG-]Vertrages über die Zuständigkeiten der Gemeinschaft hinaus erweitert wird.

Das klingt interessant, diesen Satz muß man sich in der Tat auf der Zunge zergehen lassen: Auf gut deutsch heißt dies ja wohl, daß die Menschenrechte, wie sie in der UNO-Menschenrechtskonvention festgeschrieben sind, außer Kraft gesetzt sind, wenn sie nicht unter den Geltungsbereich der EG-Verträge fallen. Soviel anmaßende Offenheit läßt einen wirklich sprachlos zurück.

Und diese Überheblichkeit wird im nächsten Absatz zu einer ungeheuerlichen Beleidigung und Frechheit gegenüber dem UNO-Ausschuß für Menschenrechte. Über diesen meint der Gerichtshof nämlich:

  1. Außerdem hat sich der Ausschuß für Menschenrechte, der übrigens keine gerichtliche Instanz ist und dessen Feststellungen keinen rechtsverbindlichen Charakter haben, in seiner Mitteilung, auf die Frau Grant verweist, darauf beschränkt, wörtlich und ohne besondere Begründung „zu bemerken, daß nach seiner Auffassung die Bezugnahme auf das ‚Geschlecht‘ in Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 26 [ICCPR] so zu verstehen ist, daß auch die sexuelle Orientierung erfaßt wird“.

 

Beleidigung des UNO-Ausschusses

Natürlich haben die Entscheidungen des UNO-Ausschusses für Menschenrechte „rechtsverbindlichen Charakter“! Hier irrt der Gerichtshof wohl. Der UNO-Ausschuß ist ja nicht irgendein Pseudo-Gremium, das sich bloß zum Selbstzweck mit Beschwerden gegen angebliche Verletzungen der UNO-Menschenrechtskonvention, die in Österreich z. B. ins innerstaatliche Recht aufgenommen worden ist, beschäftigt. Was der UNO-Ausschuß allerdings tatsächlich nicht hat, ist die Möglichkeit, seine Urteile durchzusetzen, wie es etwa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) des Europarats theoretisch könnte, etwa durch Ausschluß des betreffenden Landes aus dem Europarat. Aber in der Praxis passiert auch den Ländern, die die Urteile des EGMR ignorieren, nichts – Österreich tut dies ja ständig (vgl. LN 2/1995, S. 30 ff). Für den Gerichtshof ist jedenfalls klar:

  1. Eine solche Bemerkung, die im übrigen nicht die bis heute allgemein anerkannte Auslegung des in verschiedenen völkerrechtlichen Übereinkünften zum Schutz der Grundrechte enthaltenen Begriffes der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts wiederzugeben scheint, kann daher den Gerichtshof jedenfalls nicht veranlassen, die Bedeutung des Artikels 119 des Vertrages zu erweitern. Somit kann die Bedeutung dieses Artikels ebenso wie die jeder anderen Vorschrift des Gemeinschaftsrechts nur unter Berücksichtigung seines Wortlauts und seines Zweckes sowie seiner Stellung im System des Vertrages und des rechtlichen Zusammenhangs, in den er sich einfügt, bestimmt werden. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich aber, daß das Gemeinschaftsrecht bei seinem gegenwärtigen Stand eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht erfaßt.

 

Andere Auslegung zwingend

Dabei ist es völlig sonnenklar, daß man bei einer Auslegung des UNO-Paktes, die sich wirklich den Menschenrechten umfassend verpflichtet fühlte, ganz anders entscheiden hätte müssen: Der erwähnte Artikel 26 der UNO-Konvention formuliert unmißverständlich einen umfassenden Diskriminierungsschutz: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. In dieser Hinsicht hat das Gesetz jede Diskriminierung zu verbieten und allen Menschen gegen jede Diskriminierung, wie insbesondere wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status gleichen und wirksamen Schutz zu gewährleisten.

Was gibt es da noch zum Herumdeuteln? Die Sache ist doch ganz klar: Selbst wenn man meint, „Geschlecht“ decke nicht „sexuelle Orientierung“ ab, ist sie doch durch den Begriff „sonstiger Status“ erfaßt, und außerdem weist das Wörtchen „insbesondere“ darauf hin, daß es sich hier um keine vollständige, sondern nur eine beispielhafte Aufzählung handelt. Lesben und Schwule durch eine restriktive Auslegung dieses Artikels Menschenrechte vorenthalten und ihre Diskriminierung dadurch legalisieren zu wollen ist einfach eine unerhörte Vorgangsweise, durch die sich der Gerichtshof selbst desavouiert hat. Seine Glaubwürdigkeit und sein Ansehen hat er wohl damit verspielt.

Der Gerichtshof hat sich also der Haltung der britischen und französischen Regierung – sonst hat sich keine der 15 Regierungen an dieses Verfahren angehängt – angeschlossen, wonach Diskriminierungsschutz und Gleichbehandlung für Lesben und Schwule durch Gesetzgebung und nicht durch Rechtssprechung („legislation not litigation“) verwirklicht werden sollten. Daß der Gerichtshof damit den Menschenrechten und einer progressiven und umfassenden Auslegung keinen guten Dienst erwiesen hat, ist klar. Auch, daß er damit ein falsches Signal aussendet: Statt zu signalisieren, Diskriminierung aufgrund von Lesben und Schwulen hat im Rechtssystem Europas keinen Platz, bestätigt er, daß Diskriminierung nicht nur besteht, sondern auch erlaubt ist, daß Lesben und Schwule nach wie vor BürgerInnen zweiter und dritter Klasse sind. Das Urteil ist also ein total politisches und kein rechtliches. Denn wie der Gerichtshof auch total gegenteilig entscheiden hätte können, hat ja der Generalanwalt in seiner Stellungnahme aufgezeigt (vgl. LN 1/1998, S. 48 f).

 

Heilmittel Artikel 13

Seiner Argumentation in dieser Frage folgend, zeigt der Gerichtshof aber auch eine Möglichkeit auf, wie das bestehende Manko beseitigt werden könnte.

  1. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß der am 2. Oktober 1997 unterzeichnete Vertrag von Amsterdam (…) die Einfügung eines Artikels 6a in den EG-Vertrag vorsieht, der es nach dem Inkrafttreten dieses Vertrages dem Rat ermöglichen wird, unter bestimmten Voraussetzungen (einstimmiges Votum auf Vorschlag der Kommission nach Anhörung des Europäischen Parlaments) die zur Beseitigung verschiedener Formen von Diskriminierungen, insbesondere derjenigen aufgrund der sexuellen Ausrichtung, geeigneten Vorkehrungen zu treffen.

Durch dieses Urteil, so skandalös und problematisch es auch ist, ist jedenfalls klar geworden, daß die bestehenden gesetzlichen EU-Regelungen keine Möglichkeiten bieten, Lesben und Schwule vor Diskriminierung zu schützen, solange die Menschenrechte in diesem restriktiven Geist ausgelegt werden. Die einzige Alternative ist also, dafür zu kämpfen, daß neue gesetzliche Regelungen geschaffen werden, und da bietet sich tatsächlich als offensichtlicher Ausgangspunkt Artikel 6a an, der mittlerweile zum Artikel 13 des konsolidierten EG-Vertrags geworden ist. Diese Klausel stattet in erster Linie die EU mit dem Mandat aus, in diesem Bereich überhaupt aktiv zu werden. Neue gesetzliche „Vorkehrungen gegen Diskriminierungen können durch den Rat (das sind letztlich die Mitgliedsstaaten) „im Rahmen der durch den Vertrag gegebenen Zuständigkeiten der Gemeinschaft“ (das ist wieder eine Einschränkung!) getroffen werden. Es müssen also alle 15 Mitgliedsstaaten zustimmen. Eine rechtlich verbindliche Antidiskriminierungsrichtlinie zu verabschieden wird also sicherlich ein mittelfristiges Projekt werden und einige Jahre dauern. Und noch ist der Vertrag von Amsterdam nicht ratifiziert, allerdings ist bis Jahresende damit zu rechnen.

 

Enttäuschung und Wut in der Bewegung

Speziell in Großbritannien löste die Luxemburger Entscheidung große Enttäuschung und Wut aus und dämpfte die Oktober-Revolutions-Euphorie des Vorjahres (vgl. LN 1/1998, S. 45 ff) gewaltig. Auch die Enttäuschung über New Labour wird immer größer, denn in der Tat ist es logisch schwer nachvollziehbar, warum sich die Labour-Regierung in Luxemburg dermaßen angestrengt hat, die Sache im Sinne von SWT und gegen die Rechte von Lesben und Schwulen zu verteidigen. Auf der einen Seite verspricht Labour Antidiskriminierung und Chancengleichheit für Lesben und Schwule, auf der anderen stellt sie sich aber in Luxemburg in den Gerichtshof und argumentiert mit SWT, es sei okay, eine lesbische Angestellte zu diskriminieren, weil ja auch schwule Angestellte genauso diskriminiert würden. Und in weiterer Konsequenz heißt das auch: Labour tritt dafür ein, daß Lesben und Schwule für dieselbe Arbeit weniger Lohn bekommen als Heterosexuelle!

Zwar argumentiert Labour, daß Anti-Diskriminierungsgesetzgebung nur durch das Parlament eingeführt werden soll und nicht durch das europäische Hintertürl, aber gleichzeitig erklärte der Arbeitsminister David Blankett am Tag nach der Luxemburger Entscheidung, die Regierung hätte keinerlei Pläne für die Verabschiedung derartiger Gesetzgebung in dieser Legislaturperiode. Das heißt, Lesben und Schwule müssen mindestens noch fünf Jahre auf eine Verbesserung warten, für die Labour, die ja über eine mehr als bequeme Mehrheit im Parlament verfügt, verbal so vehement eintritt. Und da Labour, abgesehen vom Mindestalter, keine Anstalten macht, baldige Reformen der zahlreichen diskriminierenden Gesetze (Totalverbot in der Armee, „Clause 28“ sowie das Gesetz gegen „schwere Unzucht“ – gross indecency –, wodurch eigentlich ein Totalverbot homosexueller Handlungen auch für zustimmende Erwachsene im Privaten besteht, falls mehr als zwei Leute daran beteiligt sind, etc.) anzugehen, sind die großen Erwartungen und Hoffnungen in die neue Labour-Regierung einer ziemlichen Ernüchterung bei Lesben und Schwulen gewichen. Erst vor kurzem wurden in Manchester sieben Männer wegen privaten Gruppensex nach dem gross indecency-Paragraphen verurteilt, breiter Protest verhinderte jedoch Gefängnisstrafen. All dies führte jetzt auch dazu, daß sich über 40 britische Lesben- und Schwulenorganisationen am 4. April zur Gründung eines „Equality Standing Forum“ getroffen haben, um gemeinsam den Druck auf Labour zu verstärken, damit endlich Reformen durchgeführt werden.

 

Urteilsschelte

Auch Lisa Grant und Jill Percey, die persönlich zur Bekanntgabe des Urteils nach Luxemburg gekommen waren, zeigten sich klarerweise sehr enttäuscht. Am nächsten Tag (18. 2.) waren sie zur Sitzung der Intergruppe für die Gleichstellung von Schwulen und Lesben des Europäischen Parlaments (vgl. LN 1/1998, S. 54) nach Straßburg gekommen, wo das Urteil ebenfalls auf der Tagesordnung stand. Etliche Abgeordnete bezeichneten das Urteil als Skandal. Heftige Kritik daran übte in der Sitzung auch der Autor dieser Zeilen in seiner Funktion als ILGA-Europa-Vorstandsvorsitzender. Nach der Sitzung gaben Lisa, Jill, die Intergruppen-Vorsitzende Outi Ojala, eine finnische Abgeordnete von der Konföderalen Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL), und ich eine gemeinsame Pressekonferenz im Pressezentrum des Europa-Parlaments, auf der sie die Kritik an dem Urteil wiederholten und die Institutionen der EU aufforderten, im Sinne des Urteils aktiv zu werden und den Artikel 13 in konkrete Antidiskriminierungsbestimmungen umzusetzen. Ich gab auch gegenüber einer Journalistin der Nachrichtenagentur Reuters eine ausführliche und kritische Stellungnahme im Namen von ILGA-Europa ab.

 

Erste Aktivitäten

Daß Artikel 13 der Hebel für eine Verbesserung für Lesben und Schwule ist, hat auch der irische Kommissar Pádraig Flynn, der für soziale Angelegenheit zuständig ist, mehrfach betont. In einer Beantwortung schriftlicher Anfragen von EP-Abgeordneten, die wissen wollten, welche Aktivitäten die Kommission zur Umsetzung der Roth-Entschließung aus 1994 (vgl. LN 2/1994, S. 51 ff) inzwischen gesetzt hat (immerhin sind vier Jahre seither vergangen – und es ist nichts geschehen!), antwortete Flynn am 9. September 1997 in diesem Sinn (veröffentlicht im Amtsblatt der EG vom 11. 3. 1998): Die Kommission wolle die Abgeordneten davon in Kenntnis setzen, daß zum Zeitpunkt, als der Roth-Report verabschiedet wurde, die Gemeinschaftsverträge keine spezifischen Kompetenzen für die EU-Institutionen vorsahen, um Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung zu bekämpfen. Der Vertrag von Amsterdam habe jedoch eine neue rechtliche Basis im Artikel 6a geschaffen, um notwendige gemeinschaftliche Maßnahmen im Kampf gegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung zu ergreifen.

Auch bei seinem Besuch bei der erwähnten EP-Intergruppe am 13. Jänner 1998 in Straßburg betonte Flynn, daß die Kommission bereits Vorarbeiten für eine Initiative im Sinne des Artikels 13 leiste. Gegen Jahresende sei eine große Konferenz über Diskriminierungen in der EU ganz allgemein vorgesehen, und das sei die Gelegenheit, auch lesben- und schwulenspezifische Diskriminierungen einzubringen bzw. zur Sprache zu bringen. Es sei allerdings zu früh, jetzt irgendwelche Prognosen über die möglichen Ergebnisse all dieser Bemühungen abzugeben.

Ähnlich äußerte sich auch der Vertreter des Europäischen Rats im Rahmen einer Fragestunde im Europa-Parlament am 1. April 1998 in Straßburg. Der dänische EP-Abgeordnete Jens-Peter Bonde von der Juni-Bevægelse, der Anti-EU-Partei, hatte folgende Anfrage an den Rat gerichtet (Dokument B4-0272/98): Ist der Rat bereit, die Rechtsvorschriften zu ändern, um Schwule und Lesben vollständig gleichzustellen und damit de facto das diskriminierende Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Lisa Grant außer Kraft zu setzen? Der Vertreter des Rates wies abermals darauf hin, daß die bestehenden Verträge, auf die die EU basiert, kein Mandat für die Nichtdiskriminierung von Lesben und Schwulen beinhalten. Erst der Amsterdamer Vertrag würde diese Basis schaffen. Der Rat werde sich sicherlich dafür einsetzen, daß Maßnahmen, wie sie im Artikel 13 vorgesehen sind, umgesetzt werden. Auf die insistierende Zusatzfrage der dänischen Abgeordneten Ulla Sandbæk, ebenfalls von der Juni-Bewegung, ob er dies konkretisieren könne, antwortete der Vertreter des Rates, er könne sich nicht als Futurologe betätigen und das vorhersehen. Eine Abfuhr holte sich auch Seine Kaiserliche Hoheit Otto von Habsburg, der ja für die bayrische CSU im EP sitzt. Er machte sich in seiner Zusatzfrage Sorgen, ob in diesem Zusammenhang auch dem Umstand Rechnung getragen werde, daß bei Nichtdiskriminierung von Lesben und Schwulen automatisch Familien mit Kindern diskriminiert würden. Der Vertreter des Rats antwortete ziemlich ungehalten und respektlos, er könne dieser Logik nicht folgen und sehe hier überhaupt keinen Zusammenhang.

Am 1. April 1998 war auch eine Vertreterin der britischen EU-Präsidentschaft in der erwähnten Intergruppe zu Gast, um über die Aktivitäten in diesem Zusammenhang zu berichten. Margaret Scott gab sich realistisch, aber optimistisch. Die britische Präsidentschaft habe ja auch am 8. und 9. April zu einem ersten Treffen hochrangiger Beamter aus allen Mitgliedsstaaten nach Oxford geladen, um die weitere Vorgangsweise in Sachen Artikel 13 zu besprechen (vgl. auch Bericht auf Seite 34 in diesem Heft).

Am 2. April 1998 diskutierte das EP auch den Bericht des Ausschusses für Grundfreiheiten und innere Angelegenheiten über den sogenannten Simone Veil-Bericht (Dokument A4-0108/98). 1997 verfaßte eine hochrangige Gruppe von ExpertInnen unter Veils Vorsitz einen Bericht über den freien Personenverkehr in der EU. Darin wird auch empfohlen, den Familien- und Ehegattenbegriff den sozialen Veränderungen der letzten Zeit anzupassen. Durch die traditionelle Definition entstünden nämlich Probleme bei der Freizügigkeit für unverheiratete Paare, wie sie immer zahlreicher werden. Gleichgeschlechtliche LebensgefährtInnen werden jedoch weder im Veil-Report noch im Bericht des Ausschusses, den die französische Abgeordnete Anne-Marie Schaffner (Fraktion Union für Europa) ausgearbeitet hat, erwähnt. Deshalb hat die grüne Fraktion einen entsprechenden Änderungsantrag zu dieser Entschließung gestellt, mit dem das Parlament die Kommission auffordert, innerhalb eines angemessenen Zeitraums Vorschläge vorzulegen für eine bessere Umsetzung von Artikel 13 der konsolidierten Fassung des EG-Vertrags betreffend die Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung, der sexuellen Veranlagung oder des Alters. Ob dieser Zusatzantrag angenommen wurde, ist dem Autor zur schreibenden Stunde nicht bekannt gewesen, ist aber anzunehmen.

 

Verbündete finden

Daß Artikel 13 wirklich mit Leben und Substanz erfüllt wird, wird in der Tat sehr stark von den Lobbyaktivitäten der Lesben- und Schwulenbewegung in den Mitgliedsstaaten und durch ILGA-Europa abhängen. Was letztere betrifft, geht es vor allem auch darum, sich auf EU-Ebene in alle wichtigen Gremien und Bereiche einzuklinken und Lobbying nicht nur punktuell, sondern möglichst breit („horizontal“, wie das im Jargon heißt) zu betreiben. Zu diesem Zweck hat ILGA-Europa auch die Aufnahme in die „Plattform europäischer Sozial-NGOs“ beantragt. Diesem Antrag wurde von der Plattform Ende März 1998 auch stattgegeben. In dieser Plattform sind mehr als 20 europäische Verbände vereint, die sich mit so unterschiedlichen Themen wie Behinderung, Frauen, MigrantInnen, Armut, Obdachlosigkeit, Alter, Kinder, Jugend oder Wohlfahrt befassen. Durch die „Mitgliedschaft“ in der Plattform wird ILGA-Europa sicherlich auch Verbündete für die Durchsetzung ihrer Anliegen gewinnen. Sie wird auch die Arbeit der ILGA-Europa an ihrem EU-Projekt (vgl. LN 1/1998, S. 54 f) und ihre Teilnahme am European Social Policy Forum in Brüssel Ende Juni erleichtern. ILGA-Europa wird dort im Open Forum und auf einem „Messe-Stand“ ihren Bericht über die Lage der Lesben und Schwulen in der EU präsentieren. ILGA-Europa-Vorstandsmitglieder MAREN WUCH und der Autor dieser Zeilen besuchten in diesem Zusammenhang am 16. Februar 1998 im Anschluß an die zweitägige Vorstandssitzung das Plattform-Sekretariat und die Generaldirektion V der EU-Kommission, die das ILGA-Projekt mit fast 40.000 ECU unterstützt.

ILGA-Europas Mitarbeit in der Intergruppe ist ebenfalls von großer Bedeutung und eine Priorität trotz der damit verbundenen Kosten, die sich ILGA-Europa eigentlich nicht leisten kann. ILGA-Europa versucht jedenfalls, an den monatlichen Sitzungen in Straßburg teilzunehmen, was bisher auch funktionierte: Maren Wuch aus Köln nahm außer im Jänner an allen Sitzungen teil, der Autor dieser Zeilen an allen außer im März. Bei dieser Sitzung war ILGA-Europa zusätzlich durch die deutsche Aktivistin NICO BEGER vertreten. Ich hielt mich vom 2. bis 4. März 1998 in Brüssel auf, um gemeinsam mit Égalité-Mitglied ALBERTO VOLPATO weitere Gespräche im Rahmen des ILGA-Aktionsplans für die EU (vgl. LN 3/1997, S. 42 ff, und 1/1998, S. 52 ff) mit verschiedenen Abteilungen der EU-Kommission zu führen (insgesamt waren es sechs Termine, hauptsächlich in der Generaldirektion X) und nutzte die Gelegenheit, im Sekretariat von Outi Ojala auch einige Dinge für die Intergruppe zu erledigen.