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Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen

Veröffentlicht am 7. Oktober 1996
In diesem Beitrag in den LN 4/1996 berichtete ich über Pierre Seel (1923–2005), einen französischen KZ-Überlebenden, der als einziger homosexueller Deportierter vom französischen Staat offiziell als Opfer des Nazi-Regimes anerkannt wurde. Dafür hatte Seel jahrelang kämpfen müssen. Ich zeichnete nicht nur seine Verfolgungsgeschichte nach, sondern berichtete auch über Seels ersten Wien-Besuch im Juni 1996.

Pierre Seel

Pierre Seel: „Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen“. Aus dem Französischen von Miriam Magall. Jackwerth-Verlag, Köln 1996.

Pierre Seel im Juni 1996 beim Gedenkstein für die homosexuellen NS-Opfer im ehemaligen KZ Mauthausen

Pierre Seel besuchte im Juni 1996 das Grab Josef Kohouts auf dem Baumgartner Friedhof in Wien...

...und traf bei dieser Gelegenheit Josef Kohouts („Heinz Hegers") langjährigen Lebensgefährten Wilhelm Kröpfl. Diese beiden Fotos wurden im Originalbeitrag 1996 nicht veröffentlicht. Sie erschienen erstmals in der LN-Ausgabe 4/2015.

Pierre Seel sprach am 25. Juni 1996 im HOSI-Zentrum in der Novaragasse als Zeitzeuge über seine Erlebnisse während der Nazi-Zeit.

Wie bereits in den LN 3/1996 (S. 31) angekündigt, hielt sich Pierre Seel, homosexueller Deportierter und KZ-Opfer aus Frankreich, Ende Juni 1996 in Österreich auf. Es war das erste Mal seit dem Ende des Nazi-Terrors, daß der 73jährige wieder ein Land besuchte, in dem Deutsch gesprochen wird. Unbedingt wollte er den Gedenkstein für die homosexuellen NS-Opfer in Mauthausen sehen. Unterdessen ist nun auch die angekündigte deutsche Übersetzung seines Buches – Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen – im Kölner Jackwerth-Verlag erschienen.

Pierre Seel (Jahrgang 1923) war 17 Jahre alt, als er unwissentlich einen Fehler beging, der sich äußerst negativ auf sein ganzes Leben auswirken sollte. Der Bürgersohn war sich bereits bewußt, homosexuell zu sein, und hatte auch bereits herausgefunden, wo man in seiner Heimatstadt, dem elsässischen Mulhouse (Mülhausen), andere Schwule kennenlernen konnte: in der öffentlichen Toilette am square Steinbach. Als ihm eines Tages dort seine Uhr gestohlen wurde, ging er in seiner jugendlichen Naivität zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Diese wurde auch aufgenommen, aber der Beamte befragte den Jungen mißtrauisch, was er denn dort gemacht hätte. Pierre ließ sich nicht einschüchtern und gab es offen zu, aber homosexuelle Handlungen waren ja in Frankreich seit 1792 nicht mehr strafbar. 1942 sollte die Vichy-Regierung allerdings Sonderbestimmungen gegen Homosexuelle einführen: Das Mindestalter, bis dahin einheitlich 13 Jahre, wurde für Schwule auf 21 Jahre hinaufgesetzt. Diese Bestimmung überlebte bezeichnenderweise nach dem Krieg als § 331 Abs. 3 die Säuberung des französischen Strafrechts von antisemitischen und anderen NS-Einflüssen aus der Zeit der Kollaboration. Unter de Gaulle wurde 1962, als man die Homosexualität zur „sozialen Geißel“ erklärte, der Strafrahmen für dieses Delikt sogar verdoppelt. 1978 wurde das „Schutzalter“ für Schwule auf 18 Jahre gesenkt, und erst 1981/82, in der ersten Amtszeit François Mitterrands, wurde diese Sonderbestimmung des Vichy-Regimes ersatzlos gestrichen und damit das homosexuelle Mindestalter der 1945 auf 15 Jahre hinaufgesetzten Altersgrenze für heterosexuelle Beziehungen angeglichen. Hier hat sich leider in der deutschen Ausgabe im Nachwort von Mario Kramp ein Fehler eingeschlichen – er schreibt (entgegen der Darstellung im französischen Original, S. 180), das Vichy-Regime hätte 1942 ein Totalverbot homosexueller Handlungen, also auch unter zustimmenden Erwachsenen, eingeführt.

 

Von den Hunden der SS zerfleischt

Aber zurück zu Pierre ins Jahr 1939. Durch die von ihm selbst unterschriebene Anzeige ist Pierre in der Schwulenkartei der französischen Polizei gelandet. Als die Deutschen ein Jahr später das Elsaß besetzen, beginnen sie auch, die französischen Akten aufzuarbeiten. 1941 wird Pierre schließlich seine Anzeige zum Verhängnis. Mit anderen Homosexuellen wird er im Mai verhaftet und im Gefängnis von Mülhausen eingesperrt. Nicht lange, denn sie werden bald ins provisorische Lager Schirmeck deportiert (damals auch „Vorbruck“ genannt, ein Ort, den man auf keiner neuen Landkarte mehr findet – es handelt sich um die Verdeutschung des in der Nähe gelegenen Ortes La Broque). Ihre Arbeit wird darin bestehen, ein „richtiges“ KZ – inklusive Krematorium – zu errichten: Struthof.

Im Lager Schirmeck blieb Pierre nichts erspart, wobei die klassische Musik, die Lagerkommandant Karl Buck den ganzen Tag über Lautsprecher spielen ließ, noch eines der geringeren Übel war. Dennoch versteht man Pierre, wenn er berichtet, daß er später jahrzehntelang keine Musik von Wagner, Beethoven und Bach ertragen konnte. Hunger, Schläge, Folter, Erniedrigung, Krankheit, Schmutz waren der Alltag. Das schlimmste Ereignis, das ihn auch zu „diesem gehorsamen und schweigsamen Schatten“ im Lager werden ließ, passierte in den ersten Wochen der Gefangenschaft: Eines Tages ließ der Lagerkommandant auf dem Appellplatz antreten, zwei SS-Männer schleppten einen jungen Burschen herbei, zogen ihn nackt aus und stülpten ihm einen Blecheimer über den Kopf. Pierre erkannte seinen 18jährigen Freund Jo, den er zuvor im Lager noch nicht gesehen hatte. War er vor oder nach ihm eingeliefert worden? Die SSler hetzten schließlich ihre Schäferhunde auf Jo, die ihn vor den Augen Pierres und aller anderen Gefangenen zerfleischten und auffraßen. Ein Alptraum, der Pierre sein ganzes Leben immer wieder nachts aufschrecken läßt…

Nach einem halben Jahr, im November 1941, wird Pierre entlassen – Buck schärft ihm ein, daß er postwendend zurückkäme, sollte er irgend jemand über das, was er in Schirmeck gesehen und erlebt hatte, erzählen. Er kehrt zurück zu seiner Familie nach Mülhausen. Keiner fragt, wo er die sechs Monate war, warum und ob es stimmt, daß er wegen Homosexualität eingesperrt wurde. Er schwieg ebenfalls, auch aus Scham. Sein Schweigen sollte genau vierzig Jahre dauern…

 

Vom KZ zum Arbeitsdienst

Pierres Leidensgeschichte ist damit aber keineswegs zu Ende. Im Frühjahr 1942 wird er zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, im Zuge dessen er auch nach Wien verfrachtet wird. Der RAD dient zur Vorbereitung auf den Militärdienst. Die Elsaß-Lothringer werden ab August 1942 zur Wehrmacht eingezogen, so auch Pierre. Im Oktober 1942 geht es in deutscher Uniform an die Front, zuerst nach Kroatien, um gegen Titos Partisanen zu kämpfen, später nach Berlin, Pommern, dann wieder auf den Balkan, wo er in den Zügen zwischen Belgrad und Saloniki als Geldwechsler der Reichsbank den auf Heimaturlaub fahrenden oder von dort zurückkommenden Soldaten Drachmen in Mark und umgekehrt tauscht. Gegen Kriegsende, in der zweien Hälfte des Jahres 1944, werden noch neue Kompanien zusammengestellt, Pierre kommt an die Ostfront, an die Weichsel. Er gerät in russische Gefangenschaft, hat aber vorher die Wehrmachtsuniform loswerden können und gibt sich als entkommener französischer Lagerhäftling aus. Die Russen nehmen ihn mit. Als einer ihrer Kommandanten erschossen wird, sollen Verdächtige zur Abschreckung hingerichtet werden. Pierre ist ebenfalls unter ihnen. Gerade solche Geschehnisse verleihen seiner Lebensgeschichte etwas Grotesk-Absurdes. Ein einzelner Mensch kann doch soviel gar nicht erleben, ist man zu denken verleitet. Aber Pierre, der das KZ, die Front, die Bombenangriffe, die Gefangennahme durch die Russen überlebt hat, stirbt auch nicht durch die Kugeln in einer Vergeltungs- und Strafaktion der Sowjetpartisanen. In letzter Sekunde gelingt es ihm, dem Erschießungstod zu entrinnen: Mit dem Mut der Verzweiflung singt er die Internationale. Es ist bereits 1945.

Später wird er nach Odessa verlegt und den westlichen Alliierten übergeben. Auch hier entgeht er noch einmal dem Tod. Im letzten Moment muß er seinen Platz auf dem Schiff, das ihn nach Marseille repatriieren soll, Frauen überlassen. Das Schiff fuhr dann in den Dardanellen auf eine Mine auf, keiner wurde gerettet. Pierre kehrt in Viehwaggons auf dem Landweg über Rumänien, Polen und Deutschland nach Paris zurück, wo er seine Familie überrascht, die glaubt, er sei mit dem Schiff untergegangen und tot. Aber auch jetzt – Pierre kommt erst im August 1945 nach Frankreich zurück – muß er noch Angst haben: Speziell die zurückkehrenden Elsässer und Lothringer werden von der neuen französischen Verwaltung genau unter die Lupe genommen, um zu verhindern, daß Kollaborateure oder gar mit einer falschen Identität ausgestattete Deutsche durchs Netz gehen.

 

Jahre der Scham

Nach diesen ereignisreichen Jahren der politischen Wirrnisse kommen die Jahre der Scham, wie sie Pierre Seel in seinem Buch nennt. Das 1941 nach seiner Rückkehr aus Schirmeck von seinem Vater stillschweigend verhängte Verbot, über diesen Lageraufenthalt in der Familie zu sprechen, wird auch nach dem Krieg eingehalten. Pierre Seel stellt auch keinen Antrag auf Entschädigung, weil der einzige Grund, warum er inhaftiert und an die Front zwangsverpflichtet wurde, seine Homosexualität war. Nicht zuletzt durch diesen Druck der Familie zwingt sich Piere in ein „normales heterosexuelles“ Leben: Er heiratet, setzt drei Kinder in die Welt und unterdrückt seine Homosexualität so gut es geht.

Im Mai 1981, Pierre Seel ist 58, besucht er in Toulouse, wo er sich 1968 mit seiner Familie niedergelassen hat, eine Diskussion über die Deportation und Verfolgung Homosexueller in der Nazi-Zeit. Organisiert wird die Veranstaltung von der französischen Schwulenzeitschrift Masques, die gerade in ihrem Verlag die französische Übersetzung von Heinz Hegers Die Männer mit dem rosa Winkel aus 1972 herausgegeben hat. Auszüge daraus waren schon zwei Jahre zuvor in der ersten Ausgabe von Gai Pied erschienen. Als aus dem Buch vorgelesen wird, wird es Pierre natürlich ziemlich mulmig, er erkennt sich darin wieder. Gerne würde er hinausschreien: „Das habe ich auch durchgemacht!“, aber er hält sich zurück. Erst nach der Veranstaltung spricht er einen Mitarbeiter von Masques, Jean-Pierre Joecker, an und gibt sich als homosexueller Deportierter zu erkennen. Dieser drängt Pierre, er müsse der Öffentlichkeit darüber erzählen, vergeblich hätten sie bisher einen Überlebenden der Deportation Homosexueller aus dem Elsaß gesucht. Ich werde Sie nicht mehr auslassen, droht Joecker – und das tut er auch. Seel gibt Masques ein Interview für das Sonderheft über Martin Shermans Theaterstück Bent – Rosa Winkel.

 

Coming-out

Einer der Auslöser für Pierre Seel, als Homosexueller und auch als Nazi-Opfer herauszukommen, ist dann eine Affäre um den Straßburger Bischof Léon-Arthur Elchinger im April 1982, an die sich HOSI-Veteranen sicher noch gut erinnern. Elchinger hatte veranlaßt, daß die im April in Straßburg stattfindende ILGA-Europatagung aus dem bereits angemieteten „Heim des jungen christlichen Arbeiters“ vier Tage vor Beginn „aus sittlichen Gründen“ ausquartiert wurde. Der Bischof hatte außerdem erklärt: Ich betrachte Homosexualität als Krankheit. Ich respektiere die Homosexuellen, wie ich die Kranken respektiere. Aber wenn sie ihre Krankheit in Gesundheit verwandeln wollen, dann kann ich nicht mehr zustimmen (vgl. LN 3/1982, S. 29 f). Diese Aussage machte Pierre so wütend, daß er nicht nur dem Bischof einen offenen Brief schrieb, sondern beschloß, an die Öffentlichkeit zu gehen. Damit verbunden war allerdings auch, seiner Frau die Wahrheit zu sagen. Sie reichte die Scheidung ein.

Ab diesem Zeitpunkt versucht er auch, als Deportierter anerkannt zu werden. Als er den Grund Homosexualität nennt, wird er von der zuständigen Behörde weggeschickt. Er tritt mit verschiedenen Parteien und Organisationen wie SOS Racisme in Kontakt und beginnt ab 1987, auch den Mainstream-Medien Interviews zu geben. 1989 kehrt er auch nach Schirmeck zurück und wird traurig und wütend: Das Lager ist einer Siedlung mit netten Einfamilienhäusern gewichen – außer einer Gedenktafel erinnert nichts mehr an diesen Ort des Schreckens, an dem sein Freund Jo von den Hunden der SS zerfleischt wurde. In Struthof sind noch einige Baracken als Mahnmal erhalten, auch das Krematorium, an dem er mitbauen mußte, und der Rauchfang. Andere Gebäude des KZ, wie der berühmte „Festsaal“, sind abgerissen worden. Auch das beklagt Pierre Seel in seinem Buch, ebenso den Umstand, daß der Lagerkommandant Karl Buck nach einigen hingepfuschten Prozessen sein Leben nach 25 angenehmen Pensionsjahren auf seinem luxuriösen Anwesen in Rudersberg bei Stuttgart 1977 als 80jähriger friedlich beenden durfte.

Pierre Seel berichtet auch über die unerfreulichen Zwischenfälle, die die französische Schwulenbewegung bei offiziellen Gedenkfeiern für die Deportierten und Opfer des Nazi-Regimes erlebten. Die Schwulen wurden von Vertretern der Deportiertenverbände beschimpft und daran gehindert, ihre Kränze bei diversen Denkmälern niederzulegen. In Besançon riefen 1985 Teilnehmer einer Gedenkfeier den Schwulen, die ebenfalls einen Kranz niederlegen wollten, zu: In den Ofen mit den Schwulen! Für euch müßte man die Öfen wieder in Betrieb nehmen! [Anm.: Über diesen Vorfall hatte ich übrigens einen Artikel für die linke # 9 vom 22. Mai 1985 geschrieben.]

 

Anerkennung und Entschädigung durchgesetzt

Anfang der 90er Jahre nahm Pierre Seel seinen Kampf um die Anerkennung als Verfolgter und Deportierter des Nazi-Regimes wieder auf. Der Bürgermeister von Mülhausen stellte 1990 in der Nationalversammlung eine diesbezügliche schriftliche Anfrage an den für die anciens combattants et victimes de guerre (Widerstandskämpfer und Kriegsopfer) zuständigen Staatssekretär. Dieser erklärte, daß selbstverständlich auch die homosexuellen Opfer der Deportation in den Genuß der für die aus politischen Gründen Deportierten gesetzlich vorgesehenen Entschädigungsleistungen kommen können, falls sie die vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllten. Während die politischen Deportierten es gleich nach dem Krieg leicht hatten, die erforderlichen Augenzeugen und Dokumente für ihre Verfolgung beizubringen, war es für Pierre Seel ein „kafkaeskes“ Unterfangen, wie er im Buch schreibt, diese Voraussetzungen 45 Jahre nach Kriegsende zu erfüllen. Vier Jahre sollte es noch dauern, bis er die Amtswege erfolgreich abschließen konnte. 1994, erst einige Monate nach dem Erscheinen seines Buches in Frankreich, wurde er als (politisch) Deportierter offiziell anerkannt – er ist der erste und bisher einzige.

Seine Geschichte hat Pierre Seel gemeinsam mit Jean Le Bitoux, einem Redakteur und Mitarbeiter von Gai pied hebdo, der großen französischen schwulen Wochenzeitung, die leider nicht mehr existiert, niedergeschrieben. Es ist ein beklemmender Zeitzeugenbericht, den jeder Schwule – und auch jede Lesbe – aus den nachfolgenden Generationen lesen sollte, um sein/ihr Bewußtsein zu schärfen für das, was mit Homosexuellen früher passiert ist und vielleicht heute oder in Zukunft, da viele schwule Emanzipation und lesbisches Selbstbewußtsein als selbstverständlich erachten, möglicherweise in anderer Form wieder geschehen könnte.

 

Pierre Seel in Österreich

Im Juni 1996 faßte Pierre Seel den Entschluß, Wien und Mauthausen einen privaten Besuch abzustatten. Ein ziemlich spontaner Entschluß, der die HOSI mitten in der Produktion der LN 3/1996 überraschte und uns wenig Zeit ließ, den Besuch zu organisieren. Pierre wollte ihn auch nicht verschieben, weil er meinte, er sei jetzt alt und könne nicht warten. Es müsse jetzt sein. Also improvisierten wir, so gut es ging, ein Programm für seinen einwöchigen Aufenthalt. Wir schrieben auch an rund 100 Journalisten und Medien und boten ihnen ein Interview mit Pierre Seel an. Außer einer Redakteurin des Standards war offensichtlich niemand interessiert, einen schwulen KZ-Überlebenden zu befragen, aber auch dieses Interview kam dann aufgrund anderer Prioritäten der Redaktion nicht zustande. Damit haben sich die Mainstream-Medien in Österreich wirklich ein trauriges Armutszeugnis ausgestellt.

Am 24. Juni fuhren FELIX GÖRNER und der Autor dieser Zeilen mit Pierre Seel zum ehemaligen KZ Mauthausen, denn Pierre wollte, wie erwähnt, unbedingt den ersten Gedenkstein für die homosexuellen NS-Opfer sehen, den die Homosexuellen Initiativen Österreichs 1984 dort anbringen ließen. Es war für Pierre ganz offenkundig kein leichter Besuch, aber er war schließlich sehr froh darüber.

Am nächsten Tag besuchten wir das Grab von „Heinz Heger“ auf dem Baumgartner Friedhof. Denn als Pierre Seel erfuhr, daß jener Mann, dessen Erlebnisse als Rosa-Winkel-Häftling unter dem Pseudonym Heinz Heger erschienen sind, 1994 in Wien verstorben ist und hier begraben liegt, wollte er aus Dankbarkeit gegenüber „Heinz Heger“ unbedingt das Grab aufsuchen. Immerhin war die Präsentation der französischen Übersetzung von Hegers Die Männer mit dem rosa Winkel in Toulouse 1981 ja der eigentliche Auslöser für Seels eigenes Coming-out als Schwuler und NS-Opfer.

Wir hatten den in Wien wohnenden Lebensgefährten „Hegers“ (die beiden waren fast 50 Jahre zusammen) kontaktiert und vereinbart, daß er auch zum Friedhof kommen würde. So lernte Pierre Seel auch „Heinz Hegers“ Lebensgefährten kennen.

Am Abend des 25. Juni berichtete Pierre Seel im HOSI-Zentrum über sein Leben, seine erschütternden Erlebnisse während des Kriegs. Das HOSI-Lokal war nicht gerade überfüllt. Das mangelnde Interesse der Wiener Lesben und Schwulen daran, einen der ganz wenigen überlebenden Zeitzeugen und Betroffenen der NS-Verfolgung Homosexueller sozusagen „live“ zu hören und zu sehen, muß man leider ebenfalls als bedauerliches Armutszeugnis einstufen. Diejenigen, die Seels Zeitzeugnis miterlebten, haben es sicher nicht bereut, an diesem Abend ins HOSI-Zentrum gekommen zu sein. Diejenigen, die es versäumt haben, sollten unbedingt wenigstens das Buch lesen.

Vielleicht kommt Pierre Seel aber im Rahmen einer Leserreise wieder nach Wien. Er würde es sicherlich tun, wenn man ihn einlädt, denn trotz seiner anfänglichen Skepsis, in ein deutschsprachiges Land zu fahren, hat er gute Erinnerungen aus Wien und Österreich mitgenommen.

 

Nachträgliche Anmerkungen: 

Über Josef Kohout, über dessen KZ-Haft Hanns Neumann unter dem Pseudonym Heinz Heger das Buch Die Männer mit dem rosa Winkel verfasste, berichte ich in einem eigenen Kapitel.

Zwei der hier veröffentlichten Fotos sind damals nicht in diesem Beitrag erschienen, sondern erst viel später, und zwar in einem Beitrag von mir in den LN 4/2015 (vgl. Kapitel über Pierre Seel in meiner Website-Abteilung zum Nationalsozialismus).