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Viktor Orbán, Vorkämpfer für Homo-Rechte?

Veröffentlicht am 27. Juni 2021

Viktor Orbán hat sich verspekuliert und die EU gegen sich aufgebracht.

Kurz hat den gemeinsamen Brief von 16 EU-Regierungs- und Staatschefs und -chefinnen erst nach Veröffentlichung mitunterzeichnet, daher fehlen darauf sein Name und das Logo des Bundeskanzleramts.

Was hat Orbán angetrieben, sich dieses Ei zu legen? Das fragen sich vermutlich viele. Aber es war wohl in erster Linie diese grenzenlose Hybris und Arroganz, die typisch sind für rücksichtlose Despoten, die dann irgendwann übersehen, dass sie zu weit gehen, weil sie niemanden mehr in ihrer Umgebung haben, die ihnen noch ehrliches Feedback und Ratschläge geben (dürfen). Und verwöhnt durch den Umstand, dass man ihnen ohne jegliche Konsequenzen so lange so viel durchgehen ließ (wie bei Wladimir Putin), erlauben sie sich immer dreistere Provokationen und merken dann nicht, wann sie die rote Linie überschreiten. Orbán hat sich wohl gar nicht vorstellen können, dass seine jüngste Grenzüberschreitung derart nach hinten losgehen könnte.

Aber der Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen bringt, ist mitunter oft eine Kleinigkeit im Vergleich zu den Dingen, mit denen man zuvor ungestraft durchgekommen ist. Das trifft wohl auch für diesen Fall zu: Angesichts des unfassbaren elendslangen Sündenregisters Orbáns, das auch innerhalb der EU folgenlos blieb, ist das LSBT-Informationsverbot ja wirklich nicht mehr als der vielzitierte Lercherlschas. Ich wundere mich ja wirklich, warum die EU erst jetzt ernsthaft auf die Barrikaden steigt, um Orbán in die Schranken zu weisen.

 

Mangel an Glaubwürdigkeit

Als es vergangene Woche darum ging, gegen Orbán entsprechende Initiativen seitens der EU zu ergreifen, haben sich Kanzler Sebastian Kurz und seine türkise EU-Ministerin Karoline Edtstadler vermutlich zuerst auch gedacht: Was, wegen einer solchen Lappalie sollen wir jetzt Orbán an den Pranger stellen – nach all dem, was der sich schon geleistet hat?

Am Dienstag, 22. Juni, hatten 14 EU-Staaten in einer gemeinsamen Erklärung die EU-Kommission zu einem entschlossenen Vorgehen gegen das Anti-LSBT-Informationsgesetz aufgefordert. Sie müsse alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um die Einhaltung von EU-Recht sicherzustellen. Dazu gehöre auch, die Sache notfalls vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen. Österreich war bekanntlich nicht unter den Erstunterzeichnern. Erst am nächsten Tag (und offenbar nach einem Arschtritt des grünen Regierungspartners) lenkte Edtstadler ein. Zu den Nachzüglern zählten weiters noch Griechenland und Zypern. Schließlich unterschrieben 17 Staaten die Erklärung.

Vor dem Treffen des Europäischen Rats, vulgo EU-Gipfel, in Brüssel am Donnerstag, 24. Juni, veröffentlichten schließlich 16 EU-Staats- und Regierungschefs und -chefinnen einen gemeinsamen Brief an Ratspräsident Charles Michel, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und an António Costa, der als portugiesischer Regierungschef derzeit den EU-Ratsvorsitz innehat (siehe obenstehendes Faksimile). In dem Schreiben aus Anlass des internationalen Christopher Street Day am 28. Juni erklärten die 16 Regierungschefs und -chefinnen ihre Unterstützung im Kampf gegen die Diskriminierung von LSBTI-Personen als zentrales europäisches Anliegen. Ungarn und sein homophobes Gesetz wurden darin nicht extra erwähnt.

Wieder war Österreich nicht sofort mit von der Partie, erst nach der Veröffentlichung des Briefes entschloss sich Kurz, ihn ebenfalls zu unterzeichnen. Deshalb fehlen sein Name und das Logo des Bundeskanzleramts auf diesem Dokument.

 

Auch in Litauen

Später erklärte Kurz ziemlich scheinheilig, Orbán habe mit besagtem Gesetz eine Grenzüberschreitung begangen. Und was war dann die Zerstörung der unabhängigen Medien in Ungarn, die Säuberungen in der Justiz, in den Wissenschaften und im Kulturbetrieb, die Vertreibung der Central European University aus Budapest?

Denselben Vorwurf, bei viel schlimmeren Grenzüberschreitungen Orbáns weggeschaut zu haben, müssen sich natürlich alle anderen Staats- und Regierungschefs ebenfalls gefallen lassen. Apropos Glaubwürdigkeit: An der fehlt es der EU-Kommission und dem Rat auch deshalb, weil Ungarn ja nicht das einzige EU-Land ist, das über ein Verbot verfügt, Informationen über Homo- und Transsexualität zu verbreiten, die Minderjährige erreichen könnten. Auch Litauen hat seit 2010 eine ähnliche Bestimmung (vgl. dazu auch LN 1/2015, S. 35, und 3/2016, S 39 f). Die litauische LSBT-Organisation LGL hofft daher, dass auch die diskriminierende Bestimmung in Litauen im Windschatten der Maßnahmen gegen Ungarn zu Fall gebracht wird. Siehe auch ihr Statement vom 25. Juni 2021 – hier auf Englisch.

Und auch die litauischen Politiker waren etwas überfordert in Sachen Glaubwürdigkeit. Während die Regierung die Erklärung vom 22. Juni unterschrieb, weigerte sich Staatspräsident Gitanas Nausėda, den Brief der Staats- und Regierungschefs zu unterschreiben. Wer sich jetzt wundert, warum es trotzdem jeweils 17 Unterzeichner gab, hier die Erklärung: Malta hat zwar die Erklärung nicht unterschrieben, aber Ministerpräsident Robert Abela den Brief der Staats- und Regierungschefs.

 

Opposition ging nicht in die Falle

Aber zurück zur möglichen Motivation Orbáns, diesen Konflikt vom Zaun zu brechen. Wie das Hungarian Spectrum in einer am 24. Juni 2021 veröffentlichten Analyse überzeugend dargelegt hat, beabsichtigten Orbán und seine FIDESZ-Partei mit ihrem Last-minute-Manöver, in den Entwurf für das „Anti-Pädophilen-Gesetz“ noch ein Informationsverbot über Homo- und Transsexualität aufzunehmen, die Opposition zu spalten. Diese formiert sich ja gerade als breites Bündnis von rechts bis links, um Orbán mit vereinten Kräften bei den nächsten Wahlen im April 2022 zu stürzen. Doch Orbáns Plan scheiterte, und in Brüssel hat er jetzt den berühmten Scherm auf.

 

Viktor Orbán, Kämpfer für Homo-Rechte?

Solche Leute können und werden nie Fehler zugeben (siehe ÖVP-Politiker wie Sebastian Kurz oder Günther Platter), denn sie machen immer alles richtig. Orbán hat folglich die Kritik am neuen Anti-LSBT-Gesetz zurückgewiesen und sich selbst als Kämpfer für die Rechte von Homosexuellen dargestellt. Im Kommunismus sei Homosexualität bestraft worden, „und ich habe für ihre Freiheit und Rechte gekämpft“, sagte er am Donnerstag bei seiner Ankunft in Brüssel – und fügte hinzu: „Aber in dem Gesetz geht es nicht darum.“ Es gehe vielmehr darum, wie Eltern ihre Kinder in sexuellen Fragen aufklären wollten, berichtete etwa der Standard am 24. Juni 2021.

Diese Behauptungen treffen nur zu einem äußerst geringen Teil zu. Es stimmt, dass Homosexualität in Ungarn im Kommunismus bestraft wurde, aber das wurde sie in den 1950er Jahren auch in vielen nichtkommunistischen Ländern. Tatsache ist indes auch, dass es die Kommunisten waren, die 1961 das Totalverbot der Homosexualität in Ungarn abgeschafft haben – zehn Jahre vor Österreich.

Tatsache ist auch, dass es bereits unter kommunistischer Herrschaft eine organisierte Schwulen- und Lesbenbewegung gab, die – unterstützt von der HOSI Wien – 1987 und 1989 sogar ost- und südosteuropäische Regionalkonferenzen für die ILGA (International Lesbian and Gay Association) in Budapest organisiert und durchgeführt hatte. 1988 wurde mit Homeros Lambda der erste Homosexuellenverein in Ungarn und dem gesamten Ostblock zugelassen. All das fand während der kommunistischen Herrschaft und noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs statt. Es mussten als nicht erst ein Herr Orbán und die FIDESZ auf den Plan treten, um für die Freiheit und die Rechte der ungarischen Homosexuellen zu kämpfen! ANDRZEJ SELEROWICZ hat übrigens in den 1980er Jahren laufend und regelmäßig in den LAMBDA-Nachrichten über die Aktivitäten und Erfolge der frühen LSBT-Bewegung in Ungarn berichtet.

Allerdings enthält Orbáns Aussage doch auch ein Körnchen Wahrheit. Ich habe mich erinnert, dass ich im Zuge meiner Arbeiten an diesem Website darüber gestolpert war, und daher gleich einmal „FIDESZ“ in das Suchfeld eingegeben. Und tatsächlich: In einem ausführlichen Beitrag in den LN 3/1990 über die neuesten Entwicklungen in Osteuropa hatte ich erwähnt, dass die ungarische Bewegung im Wahlkampf für die ersten freien Wahlen 1990 die wichtigsten Parteien zu ihrer Haltung zur Homosexualität befragt hatte – außer den Grünen und FIDESZ hatten damals alle reserviert bzw. ablehnend reagiert.

 

Traurige Entwicklung

Dass FIDESZ in der Tat als liberale Partei und Orbán als liberaler Politiker begonnen haben, ist indes bekannt. Dass sie 30 Jahre später ein korruptes, autoritäres und antidemokratisches Regime der finstersten Reaktion etabliert haben, ist ein weiterer Fall von „Die Revolution frisst ihre Kinder“ und ein deprimierendes und trauriges Phänomen, das indes leider nicht so selten ist (siehe etwa Recep Tayyip Erdoğan, der ja auch als ein ganz anderer Politiker begann als der, der er heute ist). Bei Orbán zeigt sich diese Transformation auch an seinem Äußeren. Was ist nur aus ihm geworden?, fragt man sich seufzend nicht nur wegen seiner Politik, sondern unwillkürlich auch, wenn man jenes ikonenhafte Foto von seiner legendären Rede am 16. Juni 1989 am Budapester Heldenplatz mit aktuellen Fotos von ihm vergleicht. Leider kann ich aus urheberrechtlichen Gründen das Foto aus 1989 an dieser Stelle nicht hochladen, aber man findet es z. B. als Illustration eines Feuilleton-Beitrags über Orbán in der Neuen Zürcher Zeitung vom 14. Juni 2019.

 

Gegen eingetragene Partnerschaft und Parade

Die Entwicklung von der liberalen zur illiberalen Partei zeigte sich bereits bei der Einführung der eingetragenen Partnerschaft. Als das entsprechende Gesetz im Dezember 2007 vom ungarischen Parlament verabschiedet wurde, stimmte die damals oppositionelle FIDESZ geschlossen dagegen, auch Orbán, der selbsternannte Kämpfer für die Freiheit und Rechte von Homosexuellen! Das Gesetz wurde ein Jahr später – und zwei Wochen vor dem geplanten Inkrafttreten am 1. Jänner 2009 – vom Verfassungsgericht aufgehoben. Eine überarbeitete Fassung wurde dann im April 2009 im Parlament verabschiedet (wieder gegen die Stimmen der FIDESZ) und trat am 1. Juli 2009 in Kraft (auch hier war Ungarn Österreich voraus). Die Verabschiedung des Gesetzes unter der sozialistischen Minderheitsregierung mitten in einer Finanz- und Regierungskrise war eine große Zitterpartie, aber glücklicherweise ging sie gut aus. Das Zeitfenster war nur noch kurz offen und wäre bis heute verschlossen geblieben. Denn im April 2010 kam Orbán an die Macht und hat diese bis heute nicht mehr abgegeben. In den LAMBDA-Nachrichten hat übrigens PÉTER BAKSY detailliert und ausführlich über die Entstehung und Verabschiedung des ungarischen Partnerschaftsgesetzes berichtet, und zwar in den Ausgaben 1/2008, S. 28 f, 1/2009, S. 22 ff, und 3/2009, S. 25 f.

2009 sprachen sich FIDESZ-Abgeordnete sogar für das Verbot der Pride-Parade in Budapest aus. Es war damals bereits die 13. Auflage der Parade, und es war die dritte in Folge, die von rechtsradikalen GegnerInnen tätlich angegriffen wurde – zuvor waren zehn Paraden ohne jedwede Störung durch die Straßen der Hauptstadt gezogen! Das politische und gesellschaftliche Klima war immer minderheitenfeindlicher geworden, wofür FIDESZ nicht unwesentlich mitverantwortlich war. Über den Budapest Pride 2009 berichtete ich ausführlich in den LN 5/2009.

 

Persönlich nicht homophob

Am Rande des EU-Gipfels, der diese Woche über die Brüsseler Bühne gegangen war, zeigte sich Luxemburgs Premier Xavier Bettel in Medieninterviews schwer enttäuscht von Orbán (vgl. z. B. Die Presse vom 25. Juni 2021). Er erkenne ihn nicht wieder, Orbán habe sich total verändert seit einem gemeinsamen Besuch Bettels und seines Ehemanns Gauthier Destenay bei Orbán vor ein paar Jahren. Da hat sich Bettel wohl über die homophobe Vergangenheit der FIDESZ-Partei und seines Vorsitzenden nicht ausreichend informiert. Orbán hat sich vermutlich gar nicht viel verstellt, denn offenbar ist er persönlich gar nicht homophob. Das erzählen jedenfalls Leute aus Orbáns Umfeld. Und für diese Ansicht spricht auch der Umstand, dass Orbán wohl seit mehr als drei Jahrzehnten auch Bescheid wusste über die Homosexualität József Szájers, eines seiner engsten Freunde und Vertrauten und – bis zum unrühmlichen Ende von Szájers Karriere – seines wichtigsten Mannes in Brüssel. Szájer war bekanntlich im November 2020 auf einer illegalen, weil gegen die Covid-19-Verordnungen verstoßenden schwulen Sexparty in Brüssel von der Polizei aufgegriffen worden. In der Folge musste er sein Mandat als EU-Abgeordneter – er saß seit 2004 für die FIDESZ im EU-Parlament – zurücklegen und die Partei verlassen.

Aber auch dieses Phänomen ist typisch für Populisten. Sie hetzen nicht einmal aus persönlicher Überzeugung gegen Minderheiten – oder politische Projekte –, sondern einfach nur wegen der Stimmenmaximierung und des Machterhalts. Hier paart sich Heuchelei, Verlogenheit und Scheinheiligkeit mit gnadenlosem und zynischem Populismus, mit dem die eigenen WählerInnen nach Strich und Faden verarscht werden. Wie vorhin beschrieben: Im gegenständlichen Fall ging es Orbán vor allem darum, die sich gegen ihn formierende Opposition wieder auseinanderzudividieren.

Wobei man in diesem Zusammenhang schon festhalten muss, dass das Verhalten und der Charakter eines József Szájer noch verabscheuungswürdiger und erbärmlicher ist als Orbáns. Szájer hat als Schwuler homophobeste Politik in Reinkultur gemacht. Einfach nur widerwärtig.

 

Was kann die EU tun?

Die EU scheint also wild entschlossen zu sein, Orbán endlich in die Schranken zu weisen. Viele Möglichkeiten hat sie dabei nicht. Ein Verfahren nach Artikel 7 EU-Vertrag ist unrealistisch, weil es Einstimmigkeit im Rat voraussetzt, und da haben sich ja Polen und Ungarn schon darauf verständigt, sich gegenseitig durch Einlegen eines Vetos vor einem solchen Verfahren zu schützen. Dieses Einstimmigkeitsprinzip wird noch einmal zu einem der Sargnägel der EU werden.

Das Informationsverbot betrifft auch keine Rechtsmaterie, die in die Zuständigkeit der EU fällt, daher können sich die EU-Institutionen auch nicht auf die EU-Grundrechtecharta berufen (Art. 51).

Realistischerweise bleibt nur der erst dieses Jahr eingeführte Rechtsstaatsmechanismus, aber dieser ist vermutlich ohnehin die wirksamste Waffe. Denn er sieht die Möglichkeit vor, Zahlungen an Mitgliedsstaaten auszusetzen, wenn diese gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen, und dazu gehört auch die Achtung der Menschenrechte. Ein entsprechender Beschluss über die Kürzung von EU-Mitteln erfolgt nach einem entsprechenden Kommissionsvorschlag durch den Rat, der darüber nicht einstimmig, sondern nur mit qualifizierter Mehrheit entscheiden muss. Und wie es nach dem EU-Gipfel diese Woche in Brüssel aussieht, sind mittlerweile so viele seiner AmtskollegInnen dermaßen auf Orbán sauer, dass eine derartige Mehrheit wohl locker zustande kommen wird. Und wie gesagt: Die Sprache des Geldes versteht Orbán ohnehin am besten. Da wird ihm daheim die übliche patriotische Aufwallung gegen die EU – wichtiger Bestandteil seiner populistischen Agitation – nicht mehr viel helfen.

 

Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung

Dass das ungarische Zensurgesetz ein klarer Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention darstellt, ist offensichtlich. Dazu gibt es mittlerweile entsprechende Judikatur aus Straßburg. 2017 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits Russland für ähnliche Gesetzesbestimmungen verurteilt, und zwar in der Beschwerde Nr. 67667/09 – Bajew u. a. gegen Russland. Die Kleine Kammer des Gerichtshofs befand mit sechs gegen eine Stimme (jene des russischen Richters Dmitrij Djedow), dass das 2013 russlandweit eingeführte Verbot von „Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen“, die auch von Kindern und Minderjährigen wahrgenommen werden könnte (vgl. LN 3/2013, S. 33), gegen Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt, der das Recht auf freie Meinungsfreiheit garantiert (vgl. LN 3/2017, S. 22 ff).

Mit der Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus der EU könnte man die inkriminierte Gesetzesbestimmung sicherlich am schnellsten auf den Müllhaufen der Anti-LSBT-Geschichte befördern, aber natürlich sind der Europarat und der EGMR in Straßburg hier ebenfalls zuständig. Allerdings dauern die Verfahren dort auch etliche Jahre.

 

Errungenschaften müssen mitunter verteidigt werden

Im übrigen war das Informationsverbot nicht das erste Gesetz gegen sexuelle Minderheiten, das die FIDESZ-Mehrheit im Parlament beschlossen hat. Im Dezember 2020 verabschiedete es eine Verfassungsnovelle, durch die Lesben und Schwulen die Adoption von Kindern untersagt wird. Diese Verfassungsänderung sieht weiters vor, dass das Geschlecht eines Kindes bei der Geburt festzulegen ist und im Personenstandsregister unveränderbar ist. Transgeschlechtliche Menschen können ihren Geschlechtseintrag in Ausweisen selbst nach einer geschlechtsanpassenden Operation nicht ändern.

Aus diesen Entwicklungen wird jedenfalls klar: Einmal erreichte Errungenschaften können auch wieder verlorengehen. Ein Backlash ist eine sehr reale Möglichkeit. Speziell wenn rechte Parteien an der Macht sind, die keinerlei Hemmungen haben, zwecks Machterhalts ihrer Wählerschaft Sündenböcke zu präsentieren – ob AusländerInnen, MigrantInnen, Flüchtlinge, Roma und Sinti oder eben Schwule, Lesben und Transgender-Personen. Da die sozial- und wirtschaftspolitischen Konzepte dieser Parteien allein nicht mehrheitsfähig sind, benötigen sie Sündenböcke, um ihre Wählerschaft bei der Stange zu halten (kennt man ja auch von der ÖVP und FPÖ).

Mitunter muss sich die gesamte Opposition zusammenzuschließen, um ein korruptes und kriminelles Regime zu überwinden, das demokratische Prozesse missbraucht hat, um die eigene Macht einzuzementieren. Da ist es notwendig, ideologische Differenzen hintanzustellen, um ein solches Regime zu stürzen. In Israel ist es gelungen, Benjamin Netanjahu mit solcherart vereinten Kräften loszuwerden. Hoffentlich gelingt es nächstes Jahr in Ungarn, Orbáns dann bereits zwölf Jahre dauernde Herrschaft zu beenden. Und in Österreich wäre es ebenfalls höchste Zeit, die ÖVP nach nunmehr 35 Jahren an der Macht für ein paar Jahre auf die Oppositionsbank zu schicken.