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Im Osten viel Neues

Veröffentlicht am 24. Juli 1990
1990 schloss die HOSI Wien nach neun Jahren offiziell ihren Osteuropa-Informationspool EEIP – der Fall der Berliner Mauer bzw. das Hochziehen des Eisernen Vorhangs hatten ihn obsolet gemacht. Die LN 3/1990 nahmen dies zum Anlass für einen Schwerpunkt. WALTRAUD RIEGLER schrieb ausführlich über „Lesben in Osteuropa“, ich fasste die Entwicklungen in der Region in den 1980ern und speziell seit dem Ende des Ostblocks zusammen und berichtete über aktuelle Tagungen in Jena und Tallinn, an denen ich teilnahm.

Tagungsband über den dritten und letzten DDR-Workshop „Psychosoziale Aspekte der Homosexualität" – mit persönlicher Widmung von Kurt Bach

Cover der von der gleichnamigen Gruppe herausgegebenen Pilot-Nummer von „Courage",...

...die dann als „Die andere Welt“ zur ersten DDR-Zeitschrift wurde.

Cover der polnischen Zeitschrift „Filo"

Erste schwul-lesbische Demo in der Tschechoslowakei: Altstädter Ring in Prag am 25. Februar 1990

Cover der tschechoslowakischen Zeitschrift „Lambda"

In der Sowjetunion fand im Mai 1990 die erste wissenschaftliche Tagung über Homosexualität statt, und zwar im estnischen Tallinn, das damals noch Teil der UdSSR war.

Plakat der Tagung in Tallinn

LILIAN KOTTER, Aktivistin und Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der estnischen Akademie der Wissenschaften, war eine der OrganisatorInnen der Tagung.

Cover der russischen Zeitschrift „TEMA" mit nacktem Leonid Breschnjew.

Die revolutionären Umwälzungen des letzten Jahres in den ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas haben einerseits auch die Lesben- und Schwulenbewegung in diesen Ländern positiv beeinflußt, andererseits muß man im historischen Zusammenhang auch sehen, daß gerade diese Bewegung als Vorhut, als Avantgarde des Demokratieprozesses gewirkt hat. Im folgenden wollen wir eine ausführliche Darstellung über die jüngsten Entwicklungen in der Lesben- und Schwulenbewegung in Osteuropa geben.

Als 1982 die HOSI Wien für die ILGA den sogenannten Osteuropa-Informationspool (EEIP) ins Leben rief, gab es in ganz Osteuropa keine einzige Lesben- und Schwulengruppe. Heute, 1990, bestehen in den meisten Ländern offizielle Vereinigungen (Ungarn, DDR, Polen, ČSFR) oder zumindest informelle Gruppen (UdSSR) sowie eine Reihe von schwullesbischen Zeitschriften und Publikationen. Dies war auch der Hintergrund für die Schließung des EEIP in der bestehenden Form.

 

Deutsche Demokratische Republik

 

Im ersten Halbjahr 1990 hat die DDR-Bewegung großen Aufschwung genommen. Viele Gruppen, die sich unter dem Dach der Kirche organisiert hatten, haben diese verlassen. Unabhängige Gruppen sind entstanden. Nach dem Sturz des Regimes herrschte fast anarchistische Aufbruchsstimmung. An vielen der berühmten „Runden Tische“, besonders der Kommunen, saßen und sitzen Lesben- und SchwulenvertreterInnen, am „Runden Tisch der Jugend“ etwa auch das DDR-weite „Jugendnetzwerk Lambda“.

Bei den Volkskammerwahlen haben offen Homosexuelle kandidiert. War die Bewegung beim „III. Workshop über psychosoziale Aspekte der Homosexualität“ am 3. Februar 1990 in Jena noch voller Optimismus – man diskutierte die Frage, ob man sich mit einem Staatssekretariat für Gleichstellungsfragen zufriedengeben oder gleich ein richtiges Ministerium fordern sollte –, raubte spätestens die Wahl am 18. März den AktivistInnen ihre Illusionen: Die Bevölkerung wählte traditionell und konservativ. Auch bei den Kommunalwahlen am 6. Mai trat wieder eine Reihe offener Lesben und Schwuler an, leider mit genauso wenig Erfolg wie im März.

Bei diesem Workshop wurde auch deutlich, wie verdienstvoll das Wirken der bekannten DDR-Sexuologen (Lykke Aresin [1921–2011], Kurt Bach [1938–2019?], Siegfried Schnabl [1927–2015] und Erwin Günther – um nur die wichtigsten zu nennen) war. Wie berichtet, haben sie bereits 1985 und 1988 zwei ähnliche Workshops organisiert. Auch bei anderer Gelegenheit trat alles, was in der DDR-Sexuologie Rang und Namen hat, gegen jegliche Diskriminierung von Schwulen und Lesben auf, was schließlich zur Einführung derselben Schutzaltersgrenze für homosexuelle wie der für heterosexuelle Handlungen führte. Diese Reform – wir berichteten ebenfalls – geschah bereits zu einem Zeitpunkt, da niemand den Fall der Mauer für möglich gehalten hätte. Jetzt können sich diese WissenschaftlerInnen zu Recht als Vorreiter der Demokratisierung fühlen, keiner der Wendehälse kann ihnen das Wasser reichen. Erwin Günther berichtete dann auch in Jena über die Einmischungen der „Stasi“ bei den Vorbereitungen zu den ersten beiden Workshops und entschuldigte sich für die Zensur an manchen Beiträgen, die in den Tagungsbänden veröffentlicht wurden. Lykke Aresin kündigte in ihrem Schlußwort an, daß es kein weiteres Workshop in dieser Form geben werde, die Lesben und Schwulen könnten und müßten jetzt ihre Belange selbst in die Hand nehmen.

Zensur war nicht die einzige Stasi-Schikane gegen Homosexuelle. In den Akten vieler Stasi-Abteilungen wurden – es wird niemanden überraschen – auch Aufzeichnungen über die sexuelle Orientierung der bespitzelten Menschen geführt, wie man nach der Öffnung der Archive feststellen mußte. Günther gab dazu bekannt, daß alle wegen ihrer sexuellen Orientierung diffamierten und gemaßregelten BürgerInnen rehabilitiert würden.

Nach den wissenschaftlichen Vorträgen gehörte der Workshop den AktivistInnen der Bewegung, die sich teils anarchistisch, teils „typisch deutsch“ zerstritten zeigte.

Heute bestehen über fünfzig (!) Schwulen- und Lesbengruppen sowie zwei nationale Dachverbände: Am 18. Februar hat sich der Schwulenverband in der DDR (SVD) mit Sitz in Leipzig, bei dem nur Einzelpersonen (auch Frauen!) Mitglied werden können, und am 24. Februar der teils rivalisierende Dachverband der homosexuellen Interessengruppen (DVhI), dem ebenfalls Einzelpersonen beitreten können, konstituiert. Selbst in der AIDS-Arbeit gibt es eine Menge Rivalitäten, hier sind neben zahlreichen lokalen und regionalen Initiativen die DDR-weite AIDS-Hilfe der DDR und der konkurrierende AIDS-Kreis der DDR entstanden.

Die Frauen haben sich von Anfang an aus den männerdominierten Gruppen herausgehalten oder sich wieder zurückgezogen und arbeiten mehrheitlich in autonomen Gruppen bzw. im Unabhängigen Frauenverband.

Recht anarchistisch geht es auch sonst zu. In Leipzig verfügen der SVD bzw. die Homosexuelle Initiative Leipzig (HIL) über eigene Räume im „Haus der Demokratie“, einem früheren SED-Hauptquartier. Der SVD-Sekretär benützt die Büromöbel eines ehemaligen SED-Bonzen. Im Frühjahr stand dem SVD turnusmäßig ein ehemaliges Dienstauto der SED, das sich nun mehrere Organisationen teilen, zur Verfügung. Und vom Denkmal der Völkerschlacht strahlt ein illegaler Fernsehsender ins Zentrum von Leipzig, der auch schwules Programm bietet. Leider können die AktivistInnen gar nicht genug Filmmaterial zur Verfügung stellen, wie gesendet werden könnte.

Auf dem schwullesbischen Medienmarkt hat sich auch viel getan. Während früher nur hektografierte Programm-Infos für den „innerkirchlichen Gebrauch“ verteilt werden durften, steht heute Publikationen nur mehr das Finanzierungsproblem im Weg. Die Gruppe Courage ist nach einer Pilotnummer gleichen Titels mit den ersten vier Nummern ihrer regulären Zeitschrift Die andere Welt auf den Markt gekommen. Die Lesben geben die Zeitschrift frau anders heraus, die HIL ein Info namens minislib. Eine andere Leipziger Gruppe ist hingegen ein Joint Venture mit der Kölner Zeitschrift First eingegangen, die nun regelmäßig eine umfangreiche DDR-Sektion veröffentlicht.

Der Euphorie der ersten Monate nach dem Umsturz ist jetzt eine gewisse Ernüchterung gefolgt. Errungenschaften wie die Abschaffung des höheren Schutzalters [vgl. LN 2/1989, S. 33] drohen nach dem Anschluß an die BRD wieder verlorenzugehen. Die Wiedereinführung des § 175 auf DDR-Gebiet könnte aber nicht der einzige Rückschlag in rechtlicher Hinsicht sein: Während nämlich das BRD-Grundgesetz die Ehe und Familie unter besonderen Schutz stellt und damit alle anderen Lebensformen diskriminiert, sieht der Entwurf für die neue DDR-Verfassung den Schutz aller „Lebensgemeinschaften, die auf Dauer angelegt sind“, vor. Ob dieser Entwurf jemals verabschiedet oder beim Anschluß berücksichtigt wird, steht sehr zu bezweifeln.

In den bereits erlassenen Gesetzen für die Volkskammer- sowie die Kommunalwahlen und in den neuen Parteien- und Vereinsgesetzen der DDR wird in den Antidiskriminierungsbestimmungen auch „sexuelle Orientierung“ genannt, d. h., eine Partei, die Homosexuelle diskriminiert, darf zu den Wahlen nicht zugelassen werden, Vereine, die Homosexuelle diskriminieren, sind zu verbieten.

Obendrein haben rechtsradikale Strömungen enormen Aufwind in der DDR erfahren. In der Nacht vom 20. auf den 21. April 1990 (Hitlers 101. Geburtstag) verwüsteten fanatische randalierende rechtsradikale Skinheads die Mocca-Bar, ein schwullesbisches Lokal am Ostberliner Alexanderplatz, und verprügelten die Gäste.

 

Polen

 

Während die Schwulen und Lesben in der DDR die neuen Chancen nach der Revolution maximal genützt haben, haben die Homosexuellen in Polen dies nicht getan.

In Polen hat es ebenfalls seit Anfang der 1980er Jahre, genau seit 1983, informelle Gruppen gegeben, z. B. in Breslau, Danzig und Warschau. Seit 1986 erscheint in Danzig die Infoschrift Filo (bisher 20 Ausgaben). Neuerdings – bisher zweimal – ist in Łódź das Info Kabaret erschienen, hinter diesem steht allerdings keine Gruppe, sondern einzelne Privatpersonen. Und jüngst ist die erste Ausgabe der Zeitschrift Inaczej, einer bereits professionell hergestellten Zeitschrift, erschienen. Bei allen anderen genannten Publikationen handelt es sich noch um maschinengeschriebene und fotokopierte Nachrichtenblätter.

Aufgrund von Eifersüchteleien und Rivalitäten zwischen den Aktivisten dauerte es bis zum 23. Februar 1990 (!), 12.17 Uhr, bis der erste Verein offiziell zugelassen worden ist: Es handelt sich dabei um einen Dachverband der Lambda-Gruppen, auf polnisch Stowarzyszenie Grup Lambda. Ihm gehören die bestehenden, eigenständigen Gruppen an, die sich jetzt alle auf Lambda umgetauft haben (Lambda-Wrocław, früher ETAP; Lambda-Warszawa, früher WRH; Lambda-Gdańsk, Lambda-Kraków, Lambda-Olsztyn).

Sicherlich waren auch andere Faktoren für die späte Vereinsgründung verantwortlich, etwa die katastrophale wirtschaftliche Situation des Landes, die den Menschen kaum Zeit für soziales Engagement läßt, in erster Linie jedoch der Katholizismus. Bezeichnend dafür ist, daß heute statt der kommunistischen Bonzen täglich die katholischen Kleriker im Fernsehen erscheinen, daß das Parlament seine Sitzungsperiode mit einem Gottesdienst beginnt und in den Schulen wieder das Gebet eingeführt worden ist.

Übrigens hat sich auch Arbeiterführer Lech Wałęsa jüngst zu homophoben und AIDS-Kranke diskriminierenden Äußerungen hinreißen lassen.

 

Ungarn

 

Ungarn ist nicht nur Motor und Speerspitze der jüngsten Veränderungen in Osteuropa gewesen, es war auch die ungarische Schwulen- und Lesbenbewegung, die die ersten sensationellen Erfolge verbuchen konnte (die LN berichteten). 1988 konstituierte sich die erste offiziell registrierte Schwulen- und Lesbenvereinigung Osteuropas. Ein Jahr später eröffnete sie in Budapest ihr eigenes Zentrum, kurz Lokál genannt.

Jetzt ist der Verein – Homeros Lambda – mehr oder weniger eingegangen. Ob er sich offiziell aufgelöst hat, ist nicht bekannt. Das Lokál mußte aus finanziellen Gründen verkauft werden, der neue Besitzer führt es allerdings nach wie vor als Homosexuellentreffpunkt.

Die Frauen waren die ersten, die den Verein verlassen haben, später folgten die Aktivisten der ersten Stunde wegen persönlicher Differenzen mit dem alles dominierenden und kontrollieren wollenden großen Leader der Gruppe, PÉTER AMBRUS.

Es entstand eine neue informelle Gruppe, Lambda Budapest, deren Haupttätigkeit die Herausgabe einer Zeitschrift war: Drei Nummern von Mások („Die anderen“) sind erschienen, dann stellten sich auch hier Schwierigkeiten ein. Es gab zu wenige AktivistInnen und zuwenig Interesse an deren Arbeit. In diesem Zusammenhang muß man ebenfalls die katastrophale ökonomische Lage des Landes sehen: Die meisten Leute müssen zwei oder drei Jobs haben, 14 Stunden und mehr arbeiten, um sich ihren Lebensunterhalt verdienen zu können – da bleibt einfach keine Zeit für ehrenamtliches unbezahltes soziales Engagement!

Vor den ersten freien Wahlen seit 1945 im vergangenen April wurden die wichtigsten Parteien von Mások zu ihrer Haltung zur Homosexualität befragt. Das Ergebnis war eher enttäuschend: Außer den Grünen und den Jungen Demokraten (FIDESZ)* waren alle Parteien äußerst reserviert bis ablehnend.

Eine Reform des letzten diskriminierenden Paragraphen im Strafrecht – höheres Schutzalter für Lesben und Schwule (18) als für Heterosexuelle (14) – ist für die nächste Zukunft nicht zu erwarten.

 

Tschechoslowakei

 

In der früheren ČSSR war es nicht möglich, eine offizielle Gruppe bei den Vereinsbehörden anzumelden. Mit dem Aufkommen der AIDS-Krise wurde jedoch eine Nische gefunden, in der man sich besser organisieren konnte: Beim renommierten Sexuologischen Institut an der Prager Karlsuniversität wurde 1988 ein „Soziotherapeutischer Klub“ eingerichtet. Bald zeigte sich aber, daß die Nachfrage nach Beratung weniger groß war als das Bedürfnis nach gemeinsamer Freizeitgestaltung, weshalb sich eine zweite Gruppe bildete, die sich vierzehntäglich zu einem gemeinsamen Freizeitprogramm traf.

Nach der „Sanften Revolution“ versuchte man sofort, die Vereinszulassung zu erreichen. Dies geschah am 12. Februar 1990 (ja, der Februar war ein starkes Monat für die osteuropäische Schwulen- und Lesbenbewegung!): Svaz Lambda wurde in Prag als Verein (für Böhmen und Mähren) eingetragen. Es handelt sich dabei um einen landesweiten tschechischen Verband mit Filialen in der Provinz. Die offizielle Gründungsversammlung fand am 5. Mai 1990 im Saal des Prager Hauptbahnhofs statt – immerhin nahmen 200 Personen teil! In der Tschechei wirkt darüber hinaus noch Lega, eine kommerzielle Vereinigung mit Sitz in Hradec Králové/Königgrätz.

In der Slowakei wirkt – nach Gruppenfusionierungen – nur mehr ein Verein, nämlich Ganymedes in der Hauptstadt Preßburg. Für das gesamte Staatsgebiet der ČSFR hat sich die „Bewegung für die Gleichberechtigung homosexueller BürgerInnen“ (Hnuti za rovnoprávnost homosexuálních občanů – HRHO) eintragen lassen. Diese Gruppe organisierte am 25. Februar (ja, der Feber hatte es in sich!) die erste schwullesbische Demonstration in der Tschechoslowakei am Altstädter Ring in Prag. Die PassantInnen reagierten eher verlegen, wird berichtet.

Am 23. und 24. Juni 1990 trafen sich schließlich AktivistInnen aus beiden Republiken in Brünn und gründeten einen Dachverband aller Gruppen, kurz SOHO genannt (Sdružení organizací homosexuálních občanů). Ambitiöse Pläne für die zukünftige Tätigkeit wurden diskutiert und beschlossen.

Die tschechoslowakische Bewegung war neben jener der DDR die erfolgreichste im Nützen der neuen Möglichkeiten.

Seit Februar 1989 hat die damals noch informelle Gruppe Lambda Praha quartalsweise ein Info gleichen Namens herausgegeben, das offiziell vom Sexuologischen Institut veröffentlicht wurde. Diese „Tarnung“ ist heute nicht mehr nötig. Die neue Zeitschrift Lambda erscheint jetzt monatlich offiziell als Organ des gleichnamigen Verbands in einer Auflage von 4000 Stück und wird professionell im Tageszeitungsstil hergestellt: ordentlicher Satz und auf Zeitungspapier im Großformat. Mit dem – derzeit noch staatlichen – Panorama-Verlag ist im übrigen geplant, ab Dezember 1990 eine Zeitschrift namens Lambda Revue in einer Auflage von 80.000 herauszugeben.

Das waren aber noch nicht alle Erfolge der Bewegung in unserem nordöstlichen Nachbarland: Seit 1. Juli 1990 fehlt der § 244 im Strafgesetz. Die ČSFR hat somit keinerlei Sondergesetze gegen Schwule und Lesben mehr im Strafrecht! Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß der Antrag auf Aufhebung dieses Paragraphen bereits vor der November-Samtrevolution dem Parlament vorlag, durch die Umwälzungen jedoch nicht mehr behandelt werden konnte. Nun ist er aber dem neuen Parlament wieder vorgelegt und von diesem verabschiedet worden. Wann wird es in Österreich endlich so weit sein?

Überflüssig zu erwähnen, daß die Bewegung auch großes Echo in den Medien fand, zum Beispiel in der Ausgabe 43/1989 der Zeitschrift Mladý svět. Nicht zuletzt verdankte man das Medieninteresse der Kandidatur eines offen Homosexuellen bei den Parlamentswahlen: Der bekannte Schauspieler JIŘÍ HROMADA vom Prager Burian-Theater kandidierte auf einer Bürgerrechtsliste bei den Juni-Wahlen, konnte aber nicht ins Parlament einziehen.

 

Sowjetunion

 

Den Schwulen und Lesben haben Glasnost und Perestrojka noch nicht viel gebracht. Abgesehen von einer offeneren Beschäftigung mit dem Thema Homosexualität in manchen Medien ist nichts geschehen. Jüngsten Nachrichten zufolge soll nun im Entwurf für das neue Strafrecht der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjet-Republik (RSFSR), das sicherlich Vorbild für die anderen Unionsrepubliken sein wird, der berüchtigte § 121 (Totalverbot homosexuellen Analverkehrs unter Männern) unverändert bleiben. Dies wäre eine große Enttäuschung, da man bereits ziemlich sicher damit gerechnet hatte, daß der Artikel 121 im Zuge der Gesamtreform des Strafrechts aufgehoben wird.

Im Oktober 1989 hat sich in Moskau eine informelle Gruppe gebildet, die sich „Moskauer Lesben- und Schwulenorganisation“ nennt. Im Februar (sic!) dieses Jahres hat sie ihre Zeitschrift Tjema westlichen Journalisten präsentiert. Mittlerweile sind bereits drei Nummern erschienen. In jüngster Zeit bekam die Gruppe Probleme, Mitarbeiter wurden zum Staatsanwalt vorgeladen, man drohte ihnen mit dem KGB.

Eine Aktivistin der Gruppe war im Sommer 1989 auf Einladung der HOSI in Wien und absolviert momentan einen Studienaufenthalt in den Niederlanden. Sie hat auch an der Pariser Tagung Anticipation (siehe Bericht auf S. 66 ff in diesem Heft) und an der Stockholmer ILGA-Konferenz (vgl. Bericht auf S. 44 ff) teilgenommen.

 

1. wissenschaftliche Tagung zur Homosexualität in der UdSSR

Vom 28. bis 30. Mai 1990 fand in Tallinn und Tartu (Estland) die erste wissenschaftliche Tagung über Homosexualität in der Sowjetunion statt. Organisiert wurde sie vom Historischen Institut der Estnischen Akademie der Wissenschaften, namentlich von dessen Mitarbeitern Teet Veispak und Lilian Kotter.

Rund 100 TeilnehmerInnen aus den baltischen Staaten, der Ukraine und aus anderen Teilen der Sowjetunion (vor allem Leningrad und Moskau) sowie aus Westeuropa, vor allem Finnland und Schweden, waren zu dieser dreitägigen Tagung (zwei Tage in Tallinn, ein Tag in Tartu), die den wenig provokanten Titel Sexual Minorities and Society trug, gekommen.

Die offizielle Eröffnung erfolgte durch Arvo Haug, einen estnischen Abgeordneten zum Volkskongreß in Moskau, der darauf hinwies, daß Homosexualität in der Zeit der Eigenstaatlichkeit Estlands (1918–1940) straffrei war, und ankündigte, daß sie es auch wieder werden würde, sobald das Land wieder unabhängig ist. Gerade in Hinblick auf die AIDS-Vorbeugung sah er die Abschaffung des jetzigen Verbots als wichtige Maßnahme an.

Die Begrüßung der TeilnehmerInnen erfolgte durch Teet Veispak und Dodo Parikas von der schwedischen Schwulen- und Lesbenzeitschrift Reporter, die gemeinsam mit dem schwedischen Homo-Verband RFSL und dem Institut für soziale Studien in Stockholm die Durchführung der Tagung organisatorisch und finanziell unterstützt hat.

Der erste Konferenztag war den schwulen und lesbischen WissenschaftlerInnen aus Westeuropa vorbehalten: Der britische Soziologe und Autor Jeffrey Weeks, der Soziologe Benny Henriksson aus Stockholm, die dänische Forscherin Karen Lützen, Rob Tielman von Homostudies in Utrecht, sein Kollege Gert Hekma [1951–2022] und die finnische Sozialpsychologin Kati Mustola hielten vielbeachtete Vorträge.

Der zweite Tag gehörte Osteuropa. Teet Veispak berichtete über „Homosexualität in Estland im 20. Jahrhundert“, zitierte, was Magnus Hirschfeld über dieses Land geschrieben hatte, und erwähnte u. a., daß zwischen 1960 und 1989 in Estland jährlich zwischen null und siebzehn Verurteilungen nach § 118 des estnischen Strafgesetzes (entspricht dem 121er im russischen) zu verzeichnen waren. Seine Kollegin Lilian Kotter berichtete über „Lesben in Estland nach dem 2. Weltkrieg“. 1945 war der Anteil der Frauen an der Gesamtbevölkerung beträchtlich höher als der der Männer, darüber hinaus setzte eine Landflucht ein, die Frauen wurden auf den Arbeitsmarkt gedrängt. Diese Umstände führten zu verstärkter ökonomischer Unabhängigkeit der Frauen, was lesbische Frauen auch für ihre persönliche Lebensgestaltung nutzen konnten.

Siegfried Tornow aus Westberlin hielt ein Referat über „Männliche Homosexualität und Politik in Sowjet-Rußland“. Raelynn J. Hillhouse aus den USA gab in ihrem Vortrag eine Übersicht über die moderne Lesben- und Schwulenbewegung in Osteuropa.

Ivika Nõgel referierte über ihre Fragebogenuntersuchung zur Einstellung von HochschülerInnen zur Homosexualität. Erstaunlichstes Ergebnis: Die StudentInnen der Technischen Hochschule waren liberaler in ihren Haltungen als jene der Pädagogischen Akademie.

Sergej Schtscherbakow [Сергей Щербаков], Mitglied des Leningrader Gay Laboratory [vgl. LN 4/1984, S. 25 ff, und 1/1985, S. 38 f], berichtete über die drei Jahre, in denen die Gruppe existierte (1983–86), über den Besuch von TeilnehmerInnen der ILGA-Konferenz in Helsinki 1984 und darüber, wie die Gruppe aufgrund des Drucks von seiten des KGB gezwungen wurde, ihre Aktivitäten und Kontakte 1986 endgültig einzustellen. Schtscherbakow berichtete auch ausführlich über die Methoden der Bespitzelung und Verfolgung durch die Polizei in Leningrad.

Iwan Paukow** [Иван Пауков] aus Leningrad beschäftigte sich in seinem Vortrag mit schwuler Ästhetik in der russischen Kunst.

Die beiden Finnen Olli Stålström und Martti Grönfors berichteten über eine soziologische Tagung in Moskau im April 1990, bei der es um Prostitution, Homosexualität, Drogen und AIDS ging. Dabei habe sich gezeigt, daß bei sowjetischen WissenschaftlerInnen ein großer Nachholbedarf hinsichtlich der Beschäftigung mit westlichen Forschungsergebnissen bestehe und sie westliche Studien und Unterlagen dringend benötigten.

Am dritten Tag fuhren die TeilnehmerInnen nach Tartu, dem früheren Dorpat. Einige Vortragende wiederholten in einem Hörsaal der Universitätsbibliothek ihre Referate von den Vortagen, Fredrik Silverstolpe [1947–2001], Historiker aus Schweden, hielt seinen über „Demokratie und Homosexualität“ zum ersten Mal während dieser Tagung.

Das Interesse der ortsansässigen Homosexuellen war jedoch in Tallinn bei weitem größer als in Tartu gewesen, was wahrscheinlich auch an der Größe der Hauptstadt und an der besseren Ankündigung in Tallinn lag.

Die Medien berichteten ausführlich über die Tagung. Sowohl die russische als auch die estnische Nachrichtensendung des Fernsehens sowie die Tageszeitungen haben Beiträge über dieses historische Ereignis gebracht.

Die Konferenz war ausgezeichnet organisiert, es gab eine Reihe von Rahmenveranstaltungen (Film, Fest, Musik, gemeinsame Essen in Restaurants) , insgesamt also eine mehr als erfolgreiche Veranstaltung. Man erwartet nun, daß in Tallinn eine Schwulen- und Lesbengruppe entstehen wird.

 

Albanien, Bulgarien und Rumänien

 

Nichts Neues gibt es aus Albanien, Bulgarien und Rumänien zu berichten.

Mit dem Sturz Nicolae Ceaușescus scheint zumindest die Praxis beendet, Homosexuelle im großen Stil zu Spitzeldiensten für die Geheimpolizei und zur Denunziation der eigenen SexualpartnerInnen zu erpressen. Die brutale Verfolgung scheint vorbei zu sein. Dennoch besteht das Totalverbot homosexueller Handlungen zwischen (auch erwachsenen) Frauen und Männern ebenso weiter wie das Verbot, homosexuelle Kontakte anzubahnen. Jüngste Gerüchte in der westlichen Homo-Presse, wonach sich an der Bukarester Universität eine informelle Schwulengruppe gebildet haben soll, scheinen übertrieben. Es gibt auch Berichte, wonach im Februar (! – schon wieder!) dieses Jahres bei Demonstrationen auch Forderungen nach Abschaffung der erwähnten Verbote skandiert worden seien.

Die weitere Entwicklung in Osteuropa wird sicherlich noch spannend werden. Wir ÖsterreicherInnen werden wohl weiterhin diese Entwicklung neidvoll beobachten.

 

 

Nachträgliche Anmerkungen:

* Ja, es handelt sich dabei in der Tat um die Partei Viktor Orbáns! FIDESZ hat als liberale fortschrittliche Partei begonnen und sich im Laufe der 30 Jahre total und extrem nach rechts entwickelt.

** Iwan Paukow übersiedelte später nach Riga, wurde nach der Unabhängigkeit des Landes lettischer Staatsbürger, wodurch sein Name auf Ivans Paukovs lettisiert wurde. Mit ihm verbindet mich eine der langjährigen Freund- und Bekanntschaften aus der internationalen Bewegung, die ich in der privaten Sektion übers Reisen erwähne. Ebenso übrigens wie mit der vorhin genannten Kati Mustola aus Helsinki, die ich allerdings nicht mehr so oft treffe wie Ivans…