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Gastkommentar in Lambda Nr. 2/2019

Betrifft: Interview mit Brigitte Bierlein – Unfassbare Reinwaschung des Verfassungsgerichtshofs

Veröffentlicht am 29. Mai 2019
Meine Kritik an dem peinlichen Interview mit Brigitte Bierlein, der damaligen Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs, in der Lambda Nr. 1/2019 wurde in der Ausgabe 2/2019 als Gastkommentar abgedruckt. Die Langfassung davon habe ich bereits im April 2019 als Blog-Beitrag veröffentlicht.

„Ehe für alle und Diskriminierungsschutz: Der Verfassungsgerichtshof macht der Politik Beine“ steht hochtrabend als Titel über dem Interview mit VfGH-Präsidentin Brigitte Bierlein in der Lambda Nr. 1/2019. Was den Diskriminierungsschutz anbelangt – gemeint ist das Levelling-up im Gleichbehandlungsrecht –, trifft das allerdings überhaupt nicht zu: Der VfGH hat sich mit dieser Frage noch gar nie befasst!

Aber auch sonst muss diese absurde Aussage über das Wirken des VfGH drastisch relativiert werden. Paul Yvon blendet nämlich vollkommen aus, dass der VfGH jahrzehntelang durch seine homophoben Entscheidungen nicht nur die Menschenrechte von Schwulen und Lesben mit Füßen getreten, sondern damit der Politik auch die Argumente für deren Untätigkeit geliefert hat. Am besten lässt sich das anhand der Beschwerden gegen das höhere Mindestalter im Strafrecht illustrieren. Da hat der VfGH 15 Jahre verzweifelt versucht, § 209 zu verteidigen – bis es beim fünften Anlauf einfach nicht mehr ging. Vom ersten negativen Entscheid des VfGH 1987 bis 2002, als er § 209 endlich als verfassungswidrig aufhob, wurden noch rund 250 Schwule aufgrund dieser Bestimmung verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Eine detaillierte Analyse und Abrechnung findet sich unter diesem Link.

Die HOSI Wien protestierte später vehement gegen die Ernennung von Karl Korinek zum Präsidenten des VfGH und appellierte im Oktober 2002 sogar an Bundespräsident Thomas Klestil, diese zu verhindern – vgl. Aussendung hier.

Die HOSI Wien fordert zu Recht vom Parlament eine Entschuldigung bei den Strafrechtsopfern für die Verfolgung in der Vergangenheit. Der VfGH hat ebenfalls immense Schuld auf sich geladen, daher stünde auch ihm eine solche öffentliche Entschuldigung für seine Fehl-Erkenntnisse in der Vergangenheit nicht schlecht an! Doch statt hier nachzuhaken und kritische Fragen zu stellen, verleitet Yvon Bierlein bloß zu seichtem oberflächlichem Geschwätz.

Bierlein kam zwar erst nach den 209er-Entscheidungen an den VfGH (am 1. Jänner 2003), doch auch sie hat genug Dreck am Stecken. So war sie im Dezember 2003 an der Abweisung der Beschwerde Schalk & Kopf gegen das Eheverbot beteiligt. Warum ist sie nicht schon damals für die Öffnung der Ehe eingetreten, sondern erst 2017?

Die Entscheidung in der Sache LON WILLIAMS vom Oktober 2004 (vgl. auch LN 1/2005, S. 11 ff: „VfGH-Urteil: Die Schande“) ist ein weiterer Fall, bei dem Bierlein und ihre KollegInnen auf unseren Menschenrechten herumgetrampelt sind, wobei sie sich noch dazu EU-rechtswidrig (!) geweigert haben, die Causa dem EuGH vorzulegen. Es ging um die (Nicht-)Anerkennung einer im Ausland geschlossenen gleichgeschlechtlichen Ehe zwecks Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU. Details inklusive ausführlicher Urteilsschelte hier.

Dass der EuGH die Sache im Sinne des Klägers entschieden hätte, war schon damals klar. Ein erster gleichgelagerter (rumänischer) Fall landete vor ein paar Jahren beim EuGH und ging im Vorjahr (5. Juni 2018) positiv aus – die LN hatten im Vorfeld darüber berichtet (1/2018, S. 31 f).

Offenbar ist die Geschichte der Unterdrückung von Lesben und Schwulen durch Österreichs Höchstgerichte, die mindestens zwei Generationen von AktivistInnen geprägt hat, der aktuellen Lambda-Redaktion völlig unbekannt. Umso mehr hätte man sich durch entsprechende Recherche auf das Interview vorbereiten müssen. Diese unfassbare Reinwaschung des VfGH ist jedenfalls ein absolutes Armutszeugnis – ein Schlag ins Gesicht der erwähnten 250 209er-Opfer und jener AktivistInnen, die jahrzehntelang gegen diese Höchstgerichte angekämpft haben.

 

Anmerkung: Eine ausführlichere Version dieses Kommentars habe ich als Blog-Beitrag veröffentlicht.

Nachträgliche Anmerkung: Paul Yvon hat in der Druckausgabe der Lambda meinen Kommentar mit „Anmerkungen der Redaktion“ versehen, in denen er den VfGH auf absurde Weise gegen meine in diesem Gastkommentar geäußerte Kritik in Schutz nimmt. Ich habe als Antwort darauf einen eigenen Blog-Beitrag dazu verfasst.