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Polen: Codename „Hyazinthe“

Veröffentlicht am 18. September 2015
2015 jährte sich zum 30. Mal die Aktion „Hiacynt“. Unter diesem Decknamen lief die größte und bis heute rätselhafteste Jagd auf Homosexuelle im kommunistischen Polen. Im selben Jahr hat ANDRZEJ SELEROWICZ unter dem Titel Kryptonim „Hiacynt“ ein Buch darüber auf polnisch herausgegeben, worüber ich in den LN 4/2015 berichtete. Andrzej war als langjähriger HOSI-Wien-Aktivist in den 1980er Jahren u. a. federführend für den Osteuropa-Informationspool (EEIP) aktiv, den die HOSI Wien von 1982 bis 1990 betreut hatte.

ANDRZEJ SELEROWICZ bei der Präsentation seines Buchs in Krakau

2015 jährt sich zum 30. Male die Aktion „Hiacynt“. Unter diesem Decknamen lief die größte und bis heute rätselhafteste Jagd auf Homosexuelle im kommunistischen Polen. Aus bisher nicht geklärten Gründen führte die Volksmiliz MO auf Befehl von Innenminister Generał Czesław Kiszczak ab November 1985 regelmäßige Razzien in Lokalen, Parks und sogar öffentlichen Toiletten, die als Treffpunkte für Schwule galten, durch. Dabei ging es in erster Linie darum, persönliche Daten über möglichst viele Homosexuelle zu sammeln, wobei die diesbezüglichen Informationen von den verhafteten Männern direkt erpresst oder bei diesen beschlagnahmt wurden. Insgesamt waren es über 11.000 Personen, die man damals aus ihren Wohnungen, von ihren Arbeitsplätzen oder aus Schulen etc. abholte und auf die Polizeiwache brachte, wo sie verhört und zur Offenlegung aller intimen Details zu ihrem Privatleben und ihre Sexualpartner gezwungen wurden. Über jede dieser Personen wurde eine Akte angelegt – mit ihren Fingerabdrücken, Fotos und anderen „Beweisunterlagen“.

Willkür, Schikane oder gezielte Aktion, die vielleicht einem höheren Zweck dienen sollte? Bis heute weiß man es nicht. Ging es um die Beschaffung persönlicher Daten angesichts des als bedrohlich empfundenen Auftretens von AIDS? Oder um die Sammlung von kompromittierenden Unterlagen über Regimegegner in den Reihen der oppositionellen Solidarność? Oder doch eher um die mögliche Bekämpfung der immer einflussreicher werdenden katholischen Kirche, indem man versuchen wollte, Priester in homo- oder gar pädophile Affären zu verwickeln und gegebenenfalls erpressen zu können? Jedenfalls war die gesamte polnische Homosexuellenszene über Jahre hinaus traumatisiert und spekulierte über mögliche Gründe für diese Repressalien. Trotz der starken Homophobie in der polnischen Gesellschaft hatte Polen damals nämlich die liberalsten Gesetze im ganzen Ostblock (Homosexualität unter Erwachsenen war straffrei, das Mindestalter lag schon damals bei 15 Jahren).

Offiziell hat die Volksmiliz MO die Bekämpfung die wachsende Kriminalität unter den Homosexuellen als Auslöser für die Aktion „Hiacynt“ angegeben. Einen der interessantesten und spannendsten Umstände dieser Homosexuellenjagd stellt indes das spurlose Verschwinden aller relevanten Dokumente dar. Das Institut des nationalen Gedenkens IPN, das nach der Wende ab 1991 alle Beispiele von Verfolgung seitens des kommunistischen Regimes dokumentiert hat, veröffentlichte widersprüchliche Stellungnahmen. Einmal wurde mitgeteilt, dass diese Unterlagen bereits vernichtet worden seien, ein anderes Mal wiederum behauptete das IPN, diese nie besessen zu haben. Keine einzige Akte wurde je gefunden, alle Versuche interessierter Journalisten sowie betroffener Personen, diese Akten aufzuspüren, scheiterten. Bis heute – 30 Jahre danach.

ANDRZEJ SELEROWICZ hat nun ein Buch darüber verfasst, das heuer unter dem Titel Kryptonim “Hiacynt“ auf polnisch erschienen ist. Andrzej war als langjähriger HOSI-Wien-Aktivist in den 1980er Jahren u. a. federführend für den Osteuropa-Informationspool (EEIP), den die HOSI Wien von 1982 bis 1990 im Auftrag der International Lesbian and Gay Association (ILGA) betrieben hatte, aktiv und hat die Ereignisse damals bei seinen Reisen nach Polen aus nächster Nähe miterlebt – und darüber auch in den LN berichtet (vgl. # 1/1986, S. 33 f).

Andrzej hat sein Buch als eine Art „political fiction“ angelegt: Die erzählte Geschichte beruht zwar größtenteils auf tatsächlichen Ereignissen, die er und mehrere seiner Freunde direkt oder indirekt erlebt hatten. Parallel dazu wurden aber Storys erfunden, die als potentielle Motive dieser Verfolgungsaktion gelten konnten. Manche Namen und Umstände wurden absichtlich geändert, andere wiederum sind absolut real – hier in erster Linie das persönliche Schicksal von Waldek, einem der Pioniere der schwul-lesbischen Bewegung in Polen –, um die Authentizität dieser Geschichte zu betonen.

Dem Autor geht es in diesem Buch nicht nur darum, diese längst vergessene Geschichte zu erzählen und den mutigen Aktivisten der Schwulenbewegung ein Denkmal zu setzen, sondern er möchte damit auch dokumentieren, wie leicht jeder Durchschnittsbürger in die Fänge der Obrigkeit oder der Politik gelangen und erpresst werden kann. Er wollte zudem die Scheinheiligkeit der katholischen Kirche im Umgang mit Homosexualität bzw. Pädophilie schildern. Und nicht zuletzt möchte er mutige Personen dazu motivieren, nach den angeblich verschollenen Dokumenten weiterzusuchen, um die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen.

Das Buch hat inzwischen in Polen für Furore gesorgt: Andrzej hat es im Mai in Krakau und im August in Warschau vorgestellt und ist bei dieser Gelegenheit nicht nur von LSBT-Medien interviewt worden, sondern war auch in einer Live-Sendung bei Radio TOK FM zu Gast.