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Historisches Archiv der Homosexuellenbewegung vernichtet

Veröffentlicht am 11. Januar 2007
Eigentlich hätte Franz Xaver Guggs umfangreiches Archiv zur Geschichte der Homosexuellenbewegung nach seinem Tod in den Besitz der HOSI Wien gelangen sollen. Doch wegen der Schlamperei des Verlassenschaftsgerichts wurde es vernichtet. In den LN 1/2007 berichtete ich über diesen unglaublichen Justizskandal.

Franz Xaver Guggs Nachlass enthielt das wahrscheinlich umfangreichste Archiv zur österreichischen Homosexuellengeschichte der 1960er bis 1980er Jahre.

Hier sichte ich die aus dem Lager des Altwarenhändlers geretteten Reste des Archivs.

Karl Wawra (1924–2007) und Franz Xaver Gugg (1921–2003) waren 34 Jahre lang ein Paar.

Vor mehr als drei Jahren verstarb der Wiener Rechtsanwalt FRANZ XAVER GUGG, ein langjähriger treuer Freund und Förderer der HOSI Wien (vgl. Nachruf in den LN 1/2004, S. 5). In den LN 3/2002 (S. 42 ff) erzählte der 1921 geborene Gugg in unserer Serie „Seinerzeit“ aus seinem aufregenden und bewegten Leben, das nicht zuletzt durch eine Verurteilung und Gefängnisstrafe aufgrund des Totalverbots nach § 129 I b geprägt war. Sie war ein einschneidendes Ereignis, das Langzeitfolgen haben sollte: Aberkennung des akademischen Grades, Verlust der bürgerlichen Rechte und des Rechtsanwaltspatents – heute unvorstellbare Konsequenzen homosexuellen Verhaltens, aber doch nicht einmal 40 Jahre her! Nach Aufhebung des Totalverbots 1971 musste er sich Doktortitel, Wahlrecht und Rechtsanwaltszulassung mühsam wiedererkämpfen – in letzterem Fall dafür sogar bis vor den Verfassungsgerichtshof ziehen!

Gugg war auch ein Pionier der österreichischen Homosexuellenbewegung, der 1963 mit drei Bekannten den „Verband für freie Mutterschaft und sexuelle Gleichberechtigung“ gründete. Der Verband fand wenig Widerhall und Unterstützung. Enttäuscht meinte Gugg damals zu den LN: „Wir sind kläglich gescheitert.“ Von ihrer Zeitschrift Aufklärung erschien nur eine Nummer, 1967 wurde der Verein schließlich aufgelöst.

Nach einer Operation im Sommer 2003 hatte sich Guggs körperlicher Allgemeinzustand sehr verschlechtert. Mit der Aussicht konfrontiert, als Pflegefall ständig auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, hat er es im September 2003 vorgezogen, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Schon zuvor, im April 2003, hatte Gugg angesichts des bevorstehenden medizinischen Eingriffs seinen leiblichen Sohn und die HOSI Wien darüber informiert, dass er diese je zur Hälfte zu seinen Erben eingesetzt habe. Ebenso verfasste er ein Schreiben an seinen Lebensgefährten Karl Wawra, mit dem er 34 Jahre zusammen war und den er als Legatar eingesetzt hatte. Ihm vermachte er den Wohnungsinhalt und einige Erinnerungsstücke. Den Briefen fügte er jeweils eine Kopie seines Testaments bei.

 

Schock

Durch verschiedene Umstände, von denen später noch die Rede sein wird, zog sich die Verlassenschaftsabwicklung durch die zuständige Notarin, die als Gerichtskommissärin dazu bestellt worden war, in die Länge und ist bis heute nicht abgeschlossen. Anlässlich eines Termins bei der Notarin am 17. November 2006 mussten wir erfahren, dass der gesamte Wohnungsinhalt nach der gerichtlichen Aufkündigung und im Rahmen einer Zwangsräumung an einen Altwarenhändler verkauft wurde. Bis dahin dachten wir, der Wohnungsinhalt befände sich – aufgrund eines entsprechenden Gerichtsbeschlusses – seit 2004 in einem Speditionslager.

Die Nachricht war ein Schock, wir fielen aus allen Wolken. Denn in Guggs Wohnung hatte sich ein umfangreiches, wenn nicht das umfangreichste Archiv zur österreichischen Homosexuellengeschichte der 1960er bis 1980er Jahre befunden. Gugg besaß nicht nur eine umfassende, auch wissenschaftliche Bibliothek, darunter zahlreiche im Buchhandel nicht mehr erhältliche und zum Teil auch in österreichischen wissenschaftlichen Bibliotheken und/oder Archiven nicht vorhandene sexualwissenschaftliche, sexualjuristische und ähnliche Titel, insbesondere aus den 1950er und 1960er Jahren, sondern auch ein umfangreiches Privatarchiv (Protokolle, Akten, Behördenstellungnahmen; aber auch Briefe, Fotos, Erinnerungen und Erinnerungsstücke), die sehr gute Einblicke in das weitgehend verborgene Leben schwuler Männer während der Zeit der Kriminalisierung und zugleich in die damalige homosexuelle Subkultur sowie in die Formen juristischer Verfolgung gewährten – wie sich GUDRUN HAUER erinnert, die Gugg für eine vom Wissenschaftsministerium geförderte Studie 1999 in seiner Wohnung interviewte. Diese Studie von Gudrun Hauer und Elisabeth Perchinig wurde 2000 unter dem Titel Homosexualitäten in Österreich: Über die Zusammenhänge von politischer Identität und Praxis veröffentlicht.

 

Schwules Museum

2003 war Guggs Lebensgefährte Karl 79 Jahre alt. Er hatte immer eine eigene Wohnung bewohnt, und somit war klar, dass Guggs Wohnung aufgelöst werden würde. Da Karl aufgrund seines fortgeschrittenen Alters kein Interesse an den Archivmaterialien und Unterlagen hatte, vereinbarte er mit der HOSI Wien, dass sie ihm bei der Sichtung des Wohnungsinhalts helfen und die historischen Materialien übernehmen würde. Sie hätten den Grundstock für ein „Schwules Museum“ in Wien gebildet. Mit diesen Archivalien hatten wir auch eine Gugg gewidmete kleine Ausstellung über die Lage von Homosexuellen in der Nachkriegszeit geplant.

Deshalb hatten wir in mehreren Telefonaten und in einem Schreiben an die Notarin bereits Mitte März 2004 das Interesse an diesen Materialien bekundet, die einen unschätzbaren zeitgeschichtlichen Wert darstellten. Wir hatten das Notariat auch explizit aufgefordert, den mit der Wohnungsräumung beauftragten Kurator über unser Interesse in Kenntnis zu setzen. Es wäre ein unwiederbringlicher Verlust, würden diese einzigartigen Materialien beim Altpapier landen, schrieben wir damals an die Notarin. Sie informierte auch nachweislich den mit der Verlassenschaftssache befassten Richter am Bezirksgericht Donaustadt über diesen Wunsch.

Am 11. Mai 2004 wurde die Gemeindewohnung schließlich rechtswirksam aufgekündigt und war laut Urteil des BG Donaustadt bis 31. Mai 2004 geräumt an Wiener Wohnen zu übergeben. Der vom Gericht für das Kündigungsverfahren bestellte Kurator, Rechtsanwalt Wolfgang Ruckenbauer, erstattete dem Gericht darüber entsprechend Bericht und ersuchte zugleich um Enthebung von seinem Amt. Das Gericht kam diesem Ersuchen am 28. Mai 2004 nach und bestellte am selben Tag Richard Zavadil zum Verlassenschaftskurator, der sich um die Realisierung aller Vermögenswerte etc. kümmern sollte.

Offensichtlich war bis zum 31. Mai 2004 die Wohnung nicht geräumt übergeben worden. Ob „Wiener Wohnen“ deshalb einen Exekutionstitel zur Zwangsräumung beantragte und erwirkte, ist zur schreibenden Stunde noch nicht endgültig eruierbar gewesen, da es sich sowohl bei der Kündigungs- als auch einer Räumungsklage um ein von der Verlassenschaftssache völlig getrenntes Verfahren handelt, bei dem weder Notarin noch Erben Parteienstellung haben. Dem Antrag der HOSI Wien auf Akteneinsicht in das gerichtliche Aufkündigungs- bzw. Räumungsverfahren wurde von der zuständigen Richterin noch nicht stattgegeben.

 

Unfähiger Richter

Die HOSI Wien hat jedenfalls bereits eine Beschwerde bei der zuständigen Notariatskammer für Wien, NÖ und Burgenland wegen der Vorgangsweise der Notarin eingebracht, unter deren Oberaufsicht diese Katastrophe passieren konnte. Sollte uns die Richterin im Kündigungsverfahren keine Akteneinsicht gewähren, werden wir den für Wiener Wohnen zuständigen Stadtrat Werner Faymann ersuchen, uns vollständige Kopien des Gerichtsakts zu besorgen. Je nach Ergebnis der Überprüfung werden wir dann Beschwerden an die Volksanwaltschaft, ans Justizministerium und jede andere geeignete Stelle richten. Wir werden diese ungeheuerliche Schlamperei sicherlich nicht auf sich beruhen lassen.

Die HOSI Wien hat auch die Medien auf diesen Justizskandal aufmerksam gemacht. Das Nachrichtenmagazin profil hat am 8. Jänner 2007 einen ausführlichen Bericht über den Fall veröffentlicht, und wir haben in einer Medienaussendung am selben Tag auch unsere schwerwiegenden Vorwürfe gegen die befassten RichterInnen am BG Donaustadt publik gemacht.

Schon jetzt kristallisiert sich heraus, dass offenbar der zuerst mit der Sache befasste Richter die Sache total verbockt hat. Obwohl die Notarin bereits am 21. Juni 2004 einen ausformulierten Antrag ans Gericht betreffend Erlassung eines entsprechenden Beschlusses stellte und ausdrücklich um dringende Erledigung ersuchte, hat der Richter diesen Beschluss erst am 5. Oktober 2004 (!) erlassen. Darin wurde u. a. der Verlassenschaftskurator angewiesen, die Wohnung zu räumen und „die erblichen Fahrnisse in einem Speditionslager … auf Kosten der Verlassenschaft zu deponieren“. Zu diesem Zeitpunkt hätte die Wohnung schon seit mehr als vier Monaten geräumt sein sollen!

Der offenbar völlig überforderte Richter hat den Beschluss zu dem Zeitpunkt auch an Rechtsanwalt Ruckenbauer geschickt. Dieser teilte am 18. Oktober 2004 dem Gericht mit, dass er im Mai bereits als Kurator enthoben worden sei. Doch der Richter bestellte ihn nach Rechtskraft des Beschlusses am 16. November neuerlich zum Verlassenschaftskurator, obwohl er im Mai 2004 bereits Herrn Zavadil dazu bestimmt hatte. Bis alle vier Beteiligten diese Verwirrung über die doppelte Kuratorenbestellung wieder aufgelöst hatten, war das Jahr um, was auch daran lag, dass Zavadil ausgerechnet vom 13. November bis 6. Dezember 2004 auf Urlaub war. Erst am 27. 12. 2004 wurde die „versehentliche“ neuerliche Bestellung Ruckenbauers vom Richter rückgängig gemacht.

Einige Tage zuvor, am 21. 12., war der Autor dieser Zeilen am Amtstag bei diesem Richter erschienen, um sich über den Fortgang der Sache zu informieren. Als ich am Tag davor mit ihm telefoniert hatte, war der Richter ziemlich pampig – was ich mir nicht gefallen ließ. Wie ich dann bei meiner zweiten Akteneinsicht zwei Jahre später lesen konnte, hatte er im Akt damals vermerkt, ich hätte die Erledigung urgiert, die Verfahrensführung kritisiert und dem Gericht schleppendes und ineffizientes Verfahren wegen offenbarer Vorbehalte gegen Homosexuelle unterstellt.

Wie recht ich damit haben sollte, wusste ich damals indes gar nicht, da ich den vorhin geschilderten Ablauf noch gar nicht kannte. Anlass für meine damalige Nachfrage war u. a. der Umstand, dass der HOSI Wien jener Beschluss vom Oktober – obwohl eingeschrieben verschickt – nie zugestellt worden war. Wir erfuhren davon nur zufällig anlässlich eines Telefonats mit Karl Wawra. Offenbar hatte der Briefträger den gelben Hinterlegungszettel ins falsche Fach im Hausbriefkasten gelegt, denn wir bekamen nie eine Verständigung. Und so ging der am Postamt hinterlegte Brief – da von uns nicht abgeholt – wieder zurück ans Gericht. Damit waren zwar keine unmittelbaren Nachteile verbunden, da wir gegen den Beschluss ohnehin keine Einwendungen gehabt hätten, aber dieses Detail zeigt, dass in diesem Fall von Anfang an alles schiefgelaufen ist, was nur schieflaufen konnte – wie später noch zu lesen sein wird.

 

Unter keinem guten Stern

Als der erstbestellte Verlassenschaftskurator Richard Zavadil am 13. Dezember 2004 jedenfalls mit der Wohnungsräumung beginnen wollte und mit den von der Notarin ihm ausgehändigten Wohnungsschlüssel anrückte, musste er feststellen, dass die Schlüssel nicht passten. Wie er später herausfand, hatte der Altwarenhändler, der im Zuge einer Zwangsversteigerung die Rechte an der Wohnungsräumung bei Gericht erworben hatte, die Wohnung Anfang Dezember 2004 bereits geräumt.

Durch die Schlamperei des Richters sind also die entscheidenden Wochen und Monate verstrichen, während derer Guggs Archiv noch zu retten gewesen wäre. Hätte es die Konfusion über die zweifache Kuratorenbestellung nicht gegeben, hätte Zavadil selbst im Oktober oder November immer noch rechtzeitig die Deponierung des Wohnungsinhalts veranlassen können, auch wenn die Wohnungsräumung schon für Ende Mai angeordnet war.

So aber hat der Altwarenhändler nicht nur die umfassende Bibliothek – laut seiner Aussage mehr als 70 Bananenschachteln mit Büchern – inzwischen weiterverkauft, sondern auch sehr viele Papiere, Unterlagen und Akten zum Altpapier geworfen. Den verschlossenen, aber inzwischen leeren Wandsafe ließ er mühsam aufschweißen, obwohl sich der Schlüssel dazu bei der Notarin in Verwahrung befand!

Zavadil versuchte noch zu retten, was zu retten war, und so hat der Altwarenhändler nach Verständigung durch den Kurator nichts mehr aus dem Nachlass Guggs weggeworfen, aber da war es schon zu spät. Der Großteil der Akten, Dokumente und für die HOSI Wien bzw. bewegungsgeschichtlich bedeutsamen Unterlagen und Materialien wurden laut Altwarenhändler gleich bei Räumung der Wohnung zum Altpapier geworfen, weil diese keinen wir immer gearteten materiellen Wert darstellten. Nur fünf Bananenschachteln mit diversen Unterlagen konnten gerettet werden.

 

„Leider nicht bei Sluka“

Am 24. Dezember 2006 kaufte die HOSI Wien diese Schachteln um € 150,– für zwei Jahre Lagerkosten vom Altwarenhändler zurück. Es scheint sich wirklich nur um einen Bruchteil der Unterlagen aus dem Nachlass zu handeln. Drei der fünf Schachteln enthielten auch für uns Uninteressantes, und zwar nicht einschlägige Akten von Rechtssachen, die Gugg als Anwalt betreute – und seine Sammlung der LN sowie der Zeitschrift Bühne. In einer Schachtel befanden sich selbstgefertigte Bände mit eingeklebten persönlichen Erinnerungen an die gemeinsamen 34 Jahre von Franz und Karl: an Besuche in Theatern und Kinos, an gemeinsame Reisen; persönliche Notizen, Fotos, Korrespondenz etc.

Die beiden hatten ihre eigene Zeitrechnung: Die Sammlung beginnt nicht mit dem ersten Jänner jedes Jahres, sondern mit dem 6. August, dem Tag, an dem offenbar im Jahr 1969 ihre Beziehung begann. Ab diesem Datum werden die Jahre gezählt. Noch am 6. VIII. 2003 steht als Eintrag auf dem Deckblatt: Der 34. Jahrestag, ins 35. Jahr. Leider nicht bei Sluka; Xaver ist zu schwach! Meist stand nämlich ein Besuch in der Konditorei Sluka am Jahrestag auf ihrem Programm. Offenbar hatten sie sich dort kennengelernt. Leider können wir heute Karl Wawra dazu gar nicht mehr seriös befragen, weil sich sein geistiger Gesundheitszustand in den letzten drei Jahren seit Guggs Tod total verschlechtert hat und er sich kaum mehr an irgendetwas erinnern kann.

Weiters waren in den Schachteln noch die Akten von Guggs eigenen Verfahren (siehe oben), inklusive seiner Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 1969, die zwei Jahre später als „unzulässig“ abgewiesen wurde. Auch diverse Korrespondenz des erwähnten Verbands für freie Mutterschaft und sexuelle Gleichberechtigung ist gerettet worden.

Was alles fehlt und vernichtet wurde, werden wir nie erfahren, weil niemand den genauen Inhalt der Wohnung kannte. Angesichts der Akribie, mit der Gugg sein Archiv führte (auch zu jenen Zeiten, da es noch keine Kopiergeräte gab, hatte er von seinen eigenen Briefen Durchschläge gemacht und aufgehoben), ist aber davon auszugehen, dass wirklich der Großteil verlorengegangen ist. Beispielsweise fehlt Guggs Briefwechsel mit der HOSI Wien.

 

Originaltestament verschwunden

Dass der Wohnungsinhalt zum Großteil weiterveräußert bzw. vernichtet wurde, ist auch insofern tragisch, als wir das Original des Testaments unter den weggeworfenen Unterlagen vermuten. Gugg war nämlich schon Jahre vor seinem Tod schwer sehbehindert (davon ist sogar in einem profil-Artikel über ihn vom 11. 9. 1995 zu lesen) und muss irgendwann das Original des Testaments mit einer Kopie verwechselt und ab diesem Zeitpunkt diese Kopie fürs Original gehalten und als solches in seinem Safe aufbewahrt haben. Er nahm dieses Exemplar auch zur Hand und legte es vor sich auf den Schreibtisch, bevor er sich am 29. September 2003 erschoss. Die Polizei fand dieses Testament auch so vor und übergab es dem Gericht.

Erst dort stellte sich heraus, dass es sich dabei aber eben nur um eine Kopie handelte. Das Original wurde nie gefunden. Es existieren nur vier Kopien. Hätte er den Irrtum noch rechtzeitig bemerkt, hätte Gugg das Testament wohl neu geschrieben, denn er war bis zu seinem Tod im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, nur eben fast blind.

Da kein Originaltestament vorhanden war, musste die Notarin nach gesetzlichen Erben suchen. Sie fand schließlich entfernte Verwandte in der sogenannten dritten Parentel (Nachkommen der gemeinsamen Großeltern), die den Verstorbenen zu Lebzeiten indes nie persönlich kennengelernt hatten. Dafür benötigte die Notarin fast drei (!) Jahre – die HOSI Wien hatte eineinhalb Jahre nach Guggs Tod einen Rechtsanwalt eingeschaltet, um ihr Beine zu machen.

Da diese gesetzlichen Erben Erbserklärungen abgegeben haben, müssen die HOSI Wien und Guggs leiblicher Sohn jetzt zivilrechtlich gegen diese gesetzlichen Erben einen Erbstreit führen, wollen sie nicht auf das Erbe verzichten. Es handelt sich insgesamt um einen Bruttobetrag von rund € 180.000,–. Nach Abzug der Verlassenschaftskosten, geteilt durch zwei, und nach Abzug der Erbschaftssteuer wird wohl für uns ein Betrag von ca. € 30.000–40.000,– übrig bleiben.

Dass der Sohn nicht automatisch alles erbt, wenn das Testament nicht anerkannt wird, liegt an dem Umstand, dass er im Mai 1992 eine Erbverzichtserklärung abgegeben hat, die aufrecht ist. Im Testament steht zwar ausdrücklich, dass er ungeachtet dieser Erklärung die Hälfte erben solle, aber wenn es nicht anerkannt wird, geht auch er leer aus. Hintergrund der Erbverzichtserklärung war, dass Gugg seinen Freund Karl als Erbe einsetzen wollte und deshalb seinem Sohn für den Erbverzicht eine größere Summe als sogenannten „Vorempfang“ ausbezahlt hatte. Da es aber Karl dann ablehnte, anstelle des leiblichen Sohnes als Erbe einzutreten, teilte Gugg schon im September 1992 seinem Sohn in einem Brief mit, dass er ihn ungeachtet der Erbverzichtserklärung neuerlich testamentarisch zum Erben eingesetzt habe, allerdings nicht mehr allein, sondern „gemeinsam mit der ins Auge gefassten gesellschaftspolitischen Organisation“.

 

Erbstreit

Sohn und HOSI Wien ziehen also am gleichen Strang gegen die entfernte Verwandtschaft. Wir müssen vor Gericht beweisen, dass das Testamentsoriginal nur irrtümlich und zufällig abhanden gekommen ist (§ 722 ABGB). Angesichts der Umstände des Todes, die im Polizeiprotokoll bestätigt werden, und der massiven Sehbehinderung Guggs, die offenkundig zur Verwechslung von Kopie und Original des Testaments geführt hat, kann ein solcher Nachweis durchaus gelingen, zumal alle anderen denkmöglichen Varianten unlogisch sind: Hätte Dr. Gugg wirklich den gesetzlichen Erben, die er nie persönlich getroffen hatte, sein Vermögen hinterlassen wollen, hätte er das Testament ja widerrufen oder zerreißen können. Dann wäre aber sein Archiv sicherlich weggeworfen und auch die gemeinsamen Erinnerungen an 34 gemeinsame Jahre für seinen Lebensgefährten verloren gewesen, was er wohl niemals gewollt hätte. All diese Denkvarianten ergeben also keinen Sinn.

Natürlich muss man den RichterInnen in Österreich alles zutrauen – auch dass sie sich über den letzten Willen eines Menschen wegen formaler Kriterien einfach hinwegsetzen. Aber ohne Klage gibt es jetzt keine Chance, diesen letzten Willen durchzusetzen. Wenn wir nicht klagen (die Frist dafür läuft am 22. Jänner ab), fällt das Erbe automatisch an die gesetzlichen Erben. Deshalb wird sich die HOSI Wien auf das – erhebliche finanzielle – Risiko einer Erbschaftsklage einlassen müssen. Verlieren wir die Klage, müssen wir sämtliche Kosten übernehmen, auch jene der gegnerischen Seite. Gewinnen wir, müssen die Beklagten alles zahlen, und das Erbe bleibt ungeschmälert.

Im schlimmsten Fall können sich die Kosten auf weit über € 10.000,– belaufen. Da wir gerade auch noch mit dem Tancsits-Verfahren (siehe S. 11) viel Geld gebunden haben, das wir erst in fünf, sechs Jahren zurückbekommen werden, wenn wir in Straßburg obsiegen, wird es derzeit für die HOSI Wien finanziell sehr eng. Wir suchen daher dringend Unterstützung für die Führung des Erbstreits. Gewinnen wir ihn, betrachten wir jede geleistete Unterstützung als Darlehen, das wir dann zurückzahlen. Verlieren wir den Erbstreit, wären wir froh, die Unterstützung als großzügige Spenden betrachten zu können – oder zumindest als mittel- bis langfristig zinsenfrei rückzahlbares Darlehen. Wir appellieren daher, uns hier unbedingt zu unterstützen. Es geht uns hier neben dem Gled vor allem darum, dem letzten Willen eines Menschen zum Durchbruch zu verhelfen, dem wegen seiner Homosexualität ohnehin schon zu Lebzeiten von Staat und Gesellschaft vieles angetan wurde und der es verdient hätte, dass sein Wille wenigstens nach seinem Tod von diesem Staat und seinen Vertretern respektiert wird.

 

Nachträgliche Anmerkung:

Der Rechtsstreit sollte noch drei Jahre dauern. Im Oktober 2009 wurden schließlich Guggs leiblicher Sohn Christian und die HOSI Wien gemäß Franz Xavers letztem Willen je zur Hälfte als Erben eingeantwortet. Darüber berichtete ich dann in den LN 1/2010, S. 12 ff.