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Wählt Österreich warm?

Erschienen am 7. September 2006

Beziehungsweise: Wählen überhaupt Österreichs Schwule und Lesben selbst warm? Also für ihre ureigensten Interessen? Ich hege immer mehr Zweifel daran, liest man so manche Stellungnahmen, Kommentare oder Postings in den einschlägigen Medien und auf den diversen schwul-lesbischen Websites, wo man auch erfährt, dass angeblich fast die Hälfte der Homosexuellen nicht einmal das Naheliegendste zur Verbesserung ihrer Situation zu tun gedenkt, nämlich ihre Stimme der SPÖ oder den Grünen zu geben – jenen beiden Parteien, von denen klar ist, dass sie die rechtliche Gleichstellung von Lesben und Schwulen durchsetzen werden, sollten sie endlich von den WählerInnen mit einer Mehrheit im Parlament ausgestattet werden.

Stockholm-Syndrom

Viel ist in den letzten Tagen vom „Stockholm-Syndrom“ die Rede gewesen: von der Identifikation mit den eigenen Unterdrückern und Peinigern. Ich fürchte, auch viele Schwule (Lesben wahrscheinlich weniger) leiden an einer Art kollektivem Stockholm-Syndrom. Dass Schwule und Lesben ihre Stimme immer noch der ÖVP, der FPÖ oder dem BZÖ geben, ist für mich nur mehr psychopathologisch zu erklären. Offenbar gehört es zur verinnerlichten Homophobie bzw. zur Verdrängung des eigenen Minderwertigkeitskomplexes, unter dem diese Leute – vermutlich unbewusst – wegen ihrer Homosexualität leiden, dass sie die Diskriminierung und auch die rechtliche Ungleichbehandlung trotz der offensichtlichen Fakten nicht nur leugnen, sondern fast trotzig die homophoben Parteien auch noch mit ihrer Stimme unterstützen – um sich damit offenbar beweisen zu wollen, eh nicht unterdrückt zu werden und gleichwertig wie alle anderen zu sein.

Dieser Selbstbetrug funktioniert scheinbar. Wie – das wird mir wohl ewig ein Rätsel bleiben. Denn wer auch nur ein Quentchen lesben- und schwulenpolitisch interessiert ist und die letzten acht Jahre nicht in völliger Isolation von der Umwelt in einem Kellerverlies zugebracht hat, muss doch längst mitgekriegt haben, dass wir Lesben und Schwule von der ÖVP auch nicht die noch so kleinste rechtliche Verbesserung zu erwarten haben!

Ich könnte ja noch nachvollziehen, wenn Schwule erklärten, ihnen sei die Gleichberechtigung als Schwule nicht wichtig, das sei für sie kein Kriterium, sie wählten die ÖVP, weil…, weil… sie eben konservativ seien – sorry, ich kann mich in einen ÖVP-Wähler nicht hineinversetzen, mir fällt eigentlich kein einziger triftiger Grund ein, warum man ÖVP wählen könnte/sollte. Aber gehen wir davon aus, dass es für einige solche Gründe gibt. Eine solche ideologische Argumentation kann ich ja noch akzeptieren. Was ich aber nicht aushalte, ist der Versuch ÖVP-wählender Schwuler, auch die Schwulen- und Lesbenpolitik der ÖVP zu verteidigen und diese schönzureden – oder zu behaupten, die SPÖ hätte ja auch nichts für uns getan, als sie in der Regierung war, wobei völlig die Tatsache ausgeblendet wird, dass die SPÖ seit 1983 (!) keine Mehrheit im Nationalrat hat – auch nicht gemeinsam mit den Grünen.

Wenigstens einmal!

Es ist auch eine triviale Binsenweisheit, dass unter konservativen Regierungen kaum Fortschritte für Lesben und Schwule erfolgen. Das zeigen ja auch die ausländischen Beispiele. So wäre die Einführung der eingetragenen Partnerschaft in Deutschland unter einer CDU-geführten Regierung einfach unvorstellbar gewesen. Das war nur unter der rot-grünen Regierung möglich, so wie in Spanien die Öffnung der Ehe auch nur durch die linke Mehrheit im Parlament möglich war. Oder Großbritannien: Auch wenn man Tony Blair wegen seiner Irak-Politik am liebsten vor einem Kriegsverbrechertribunal sehen möchte, bleibt doch unbestritten, dass seine Labour Party das Vereinigte Königreich in Sachen Lesben- und Schwulenrechte von der Roten-Laternen-Position an die Europaspitze katapultiert hat.

Zu glauben, ohne fortschrittliche Mehrheit würden in Österreich gleichgeschlechtliche Partnerschaften jemals rechtlich gleichgestellt, ist schlicht Realitätsverweigerung. Ich verstehe nicht, warum viele konservative Homosexuelle nicht wenigstens einmal zu Wechselwählern werden und über ihren bürgerlichen Schatten springen (können), um einmal für vier Jahre eine linke Mehrheit zu ermöglichen, die dann in einer Legislaturperiode die ausstehende rechtliche Gleichstellung durchsetzt. Nach vier Jahren könnten sie dann ja – und bis an ihr Lebensende – wieder nach ihrer persönlichen ideologischen Vorliebe konservativ wählen!

Que(e)rschuss LN 5/2006