Theorie und Praxis
Bei den drei Landtagswahlen diesen Herbst werden den Regierungsparteien im Bund herbe Niederlagen ins Haus stehen, nicht nur in den roten Hochburgen Wien und Burgenland, sondern auch in der Steiermark. Bundeskanzler Schüssel wird auch diese Wahlschlappen aussitzen, denn Neuwahlen kann er nicht riskieren – könnten sie doch zu einer neuerlichen Wende führen und er dann nicht mehr EU-Ratspräsident im ersten Halbjahr 2006 werden. Doch das will er um jeden Preis noch werden – als Kompensation für die persönliche Schmach, die er 2000 erlitten hat, als die 14 EU-Partner Maßnahmen gegen seine blau-schwarze Regierung verhängten. Dieses egomanische Vorhaben wird Schüssel also ohne Rücksicht auf Verluste durchziehen. Das ist nur mehr psychologisch zu erklären. Das mögliche Kalkül der ÖVP, Schüssel könnte mit der vermeintlichen Würde des Amts als EU-Ratsvorsitzender dann bei den Nationalratswahlen 2006 politisch punkten, wird eher nicht aufgehen. Im Gegenteil: In Sachen Image könnte das sogar nach hinten losgehen, ist doch die EU – zu Recht – so unpopulär wie nie. Was einerseits ihre eigene Schuld, aber auch die der Regierung ist. Denn warum es z. B. EU-rechtswidrig sein soll, den freien Zugang zu österreichischen Unis an ein österreichisches Maturazeugnis zu binden, ist nicht wirklich nachvollziehbar. Aber hier hat die Bundesregierung offensichtlich „Brüssel“ (bzw. in diesem Fall „Luxemburg“) einfach benutzt, um den bei ihr so verhassten freien Hochschulzugang, eine Errungenschaft der Kreisky-Ära, beseitigen zu lassen. Besonders pikant: Österreich muss (EU-)ausländische Maturazeugnisse anerkennen, darf sich aber weigern, bestimmte (EU-)ausländische Heiratsurkunden anzuerkennen!
Andere EU ist möglich
Erfreulich in diesem Zusammenhang ist, dass endlich aus der SPÖ auch EU-kritische Wortmeldungen kommen – auch gegen die vereinte Phalanx der bürgerlichen Medien, die jede noch so berechtigte EU-Kritik reflexartig ins reaktionäre nationalistische Eck zu stellen versuchen. Ich habe ja nie verstanden, warum bedingungslose EU-Gefolgschaft etwa eine genuin sozialdemokratische Position zu sein hat(te) – zumindest in Österreich; die dänische Sozialdemokratie beispielsweise ist in der EU-Frage traditionell gespalten – eine Hälfte ist dafür, die andere dagegen; in der konkreten Politik ist man pragmatisch, und so hat man sich auch viele Ausnahmen herausverhandelt. Den Dänen wäre ein EuGH-Urteil wie jenes zum Uni-Zugang nicht passiert; die haben sogar dem Ausverkauf ihrer Sommerhäuser an andere EU-BürgerInnen einen Riegel vorgeschoben! Nicht verständlich ist für mich auch, warum die österreichischen Grünen von kritischen BeitrittsgegnerInnen zu völlig unkritischen BefürworterInnen mutiert sind. Das neoliberale Projekt, das die EU heute darstellt, ist ja wohl alles andere als ein genuin grünes Projekt. Die schwedischen Grünen hingegen zählen immer noch zu den vehementesten EU-GegnerInnen und AustrittsbefürworterInnen.
Und was helfen EU-Antidiskriminierungsrichtlinien für den Arbeitsmarkt, wenn die EU etwa durch die geplante Dienstleistungsrichtlinie oder das GATS-Abkommen, das sie innerhalb der Welthandelsorganisation WTO intensiv betreibt, auf der anderen Seite den Druck auf den Arbeitsmarkt dermaßen verschärft, dass in der Praxis nicht nur diese Richtlinien, sondern sämtliche Arbeitnehmerrechte auf der Strecke bleiben? Denn was bringt es, wenn die Pflegefreistellung theoretisch jetzt auch für die Betreuung erkrankter gleichgeschlechtlicher LebensgefährtInnen gilt, wenn in der Praxis heute sogar ArbeitnehmerInnen erfolgreich mit der Kündigung gedroht wird, sollten sie sich tatsächlich unterstehen, sich zur Betreuung ihrer kranken Kinder freizunehmen? Genauso wie es bereits gang und gäbe ist, dass die Leute „freiwillig“ unbezahlte Überstunden leisten, um ihren Job nicht zu verlieren. In Deutschland verzichten die ArbeitnehmerInnen aus derselben Angst jedes Jahr auch auf 76 Millionen Urlaubstage, die ihnen gesetzlich zustünden. Da verwundert es wohl nicht, dass sich kaum jemand traut, die neuen Antidiskriminierungsbestimmungen in Anspruch zu nehmen.
Höchste Zeit daher, dass Kritik an dieser EU nicht mehr der FPÖ allein überlassen bleibt. Das ist – vor allem für die SPÖ – genauso „peinlich“ wie der Umstand, dass Jörg Haider heute fast schon ein Politiker-Monopol auf Kapitalismus- und Globalisierungskritik hat! Wenigstens gibt es in Deutschland mit der neuen Linkspartei einen Lichtblick. Hoffentlich eine Warnung für die SPÖ – und ein Ansporn, endlich linke Positionen zu vertreten!