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Pädophilie-Diskussion in der ILGA

Veröffentlicht am 18. Januar 1994
Vom 27. bis 31. Dezember 1993 fand die 15. europäische Regionaltagung der ILGA (International Lesbian and Gay Association) in London statt. Eines der am heftigsten diskutierten Themen betraf den (unvermeidlichen?) Ausschluss von pädophilen Gruppen aus der ILGA, um ihre Menschenrechtsarbeit bei internationalen Organisationen nicht zu gefährden, wie ich in den LN 1/1994 berichtete.

Demo gegen das aberwitzig hohe Schutzalter in Großbritannien (21 Jahre) vor dem Gebäude der Royal Courts of Justice, das eher einer gotischen Kathedrale ähnelt als einem Gerichtsgebäude.

ILGA-Generalsekretär HANS HJERPEKJØN (1943–2012) und ILGA-Generalsekretärin REBECA SEVILLA auf der Europatagung der ILGA in London im Dezember 1993

Mit rund 160 TeilnehmerInnen war die Eurotagung zwar besser besucht als im Vorjahr in Brüssel (vgl. LN 1/1993, S. 56 ff), aber immer noch ein vergleichsweise beschauliches und überschaubares Treffen. Erfreulich war, dass wieder mehr OsteuropäerInnen als auf der Weltkonferenz in Barcelona [vgl. LN 4/1993, S. 52 f] vertreten waren. Für die HOSI Wien waren PÉTER BAKSY und der Autor dieser Zeilen nach London gefahren. Die Konferenz war vom London Lesbian and Gay Switchboard bestens organisiert worden. Es gab meist fünf parallele Arbeitskreise, davon stets zwei zum Thema AIDS, einem der Hauptthemen der Konferenz. Die Weltgesundheitsorganisation trat deshalb auch als Mitveranstalterin auf, finanzielle Unterstützung kam diesmal auch von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften.

An Rahmenprogramm boten die VeranstalterInnen einen Empfang im Rathaus des Stadtteils Islington (die Verwaltungseinheit Groß-London wurde ja unter Thatcher abgeschafft), einen Besuch im London Lighthouse, eine schwule Pub- sowie Parktour, einen vielumjubelten Abend mit der lesbischen Sängerin und Komödiantin Lea de Laria sowie mehrere Darbietungen der Schwestern vom Orden of Perpetual Indulgence, einen Stadtspaziergang und eine Silvesterparty.

Für die HOSI Wien waren vor allem die Arbeitsgruppen relevant, in denen sie wesentlich mitarbeitet:

Europarat: Die „Rumänien-Aktion“ soll jetzt auf die drei anderen Europarats-Anwärterstaaten, in denen noch ein Totalverbot homosexueller Handlungen besteht (Albanien, Belarus, Moldova), ausgedehnt werden, d. h. Kontaktaufnahme mit den Europarats-BerichterstatterInnen für diese Länder, sodaß der Europarat ähnliche Bedingungen an eine Aufnahme knüpft wie im Falle Rumäniens, falls diese Länder das Totalverbot nicht vorher ohnehin aufheben; Rumänien-Aktivitäten gehen ebenfalls weiter (siehe Bericht S. 56 f),

KSZE: Lobbying bei der KSZE-Überprüfungskonferenz im Oktober/November 1994 in Budapest sowie Teilnahme an relevanten weiteren Seminaren der menschlichen Dimension der KSZE;

AIDS: Da die niederländische Organisation NVIH-COC die Koordination der AIDS-Arbeitsgruppe der ILGA in den letzten eineinhalb Jahren eher vernachlässigt hat, hat das ILGA-Sekretariatetreffen in London beschlossen, London Switchboard und HOSI Wien sollen diese Koordination gemeinsam übernehmen, wobei wir für die interne Kommunikation verantwortlich sein werden; der Autor dieser Zeilen wird in diesem Zusammenhang am 7. und 8. Februar 1994 an einer Europäischen Konsultation über die Zusammenarbeit zwischen Lesben- und Schwulenorganisationen und Regierungs- bzw. öffentlichen Stellen teilnehmen. Diese Konsultation wird von der britischen Behörde für Gesundheitsförderung (Health Education Authority) finanziert und gemeinsam mit der WHO und der ILGA im Londoner Lighthouse veranstaltet.

UNO: Vom 17. bis 21. Oktober 1994 findet in Wien die regionale UNO-Vorbereitungskonferenz für Europa und Nordamerika für die Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 statt. COC-Amsterdam wird für die ILGA einen Berichtsentwurf erarbeiten, CHRIS CORRIN aus Schottland wird die offizielle ILGA-Sprecherin für diese Konferenz und das zugleich stattfindende NGO-Forum (Tagung nichtstaatlicher Organisationen) sein. Auf die HOSI-Wien-Lesbengruppe wartet einiges an Arbeit.

Außerdem ist die HOSI Wien in der neuformierten Arbeitsgruppe ILGA-Regionalisierung (Europa) vertreten.

Natürlich gab es die obligate Demonstration, diesmal vor den Royal Courts of Justice, wobei gegen das grotesk hohe Schutzalter für Schwule im Vereinigten Königreich (21 Jahre) protestiert wurde. Weitere Losungen richteten sich gegen die Reformvorschläge in Rumänien (siehe S. 56 f) und gegen Rußland, wo auch nach der Entkriminalisierung der Homosexualität viele Schwule nach wie vor im Gefängnis sitzen.

Die nächsten europäischen Regionaltagungen wurden ebenfalls vergeben: 1994 wird SETA in Helsinki Gastgeber sein, 1995 LASV in Riga.

 

Pädo-Diskussion könnte ILGA spalten

Wie in den LN 4/1993, S. 48 ff, ausführlich berichtet, erhielt die ILGA im Juli 1993 beratenden Status beim Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) der Vereinten Nationen. Die Freude darüber währte aber nur kurz: Im September 1993 veröffentlichte die rechtsgerichtete Organisation The Report in ihrer Publikation Lambda Report Nr. 4 einen detaillierten Bericht über die Mitgliedschaft von Pädophilengruppen in der ILGA und die langjährige Pädo-Diskussion innerhalb der ILGA. Der Titel der Publikation ist indes irreführend: Es handelt sich um ein anti-homosexuelles Druckwerk, das sozusagen schwul/lesbische Anliegen in Politik und Kultur der USA „beobachten“ möchte, so heißt es auch im Untertitel: Monitoring the homosexual agenda in American politics & culture. Der Bericht selbst ist jedenfalls erstaunlich gut recherchiert, selbst ILGA-Veteranen hätten es schwer gehabt, eine so präzise historische Übersicht über die einschlägigen Resolutionen auf den ILGA-Konferenzen zusammenzustellen.

Aus ihren Positionen zur Pädophilie ist der ILGA auch kein Strick zu drehen – die meisten sind entweder wischi-waschi gehalten, weil eindeutige Pro- oder Kontra-Resolutionen immer an der erforderlichen 80-Prozent-Hürde scheiterten, oder unmißverständliche Stellungnahmen zum Schutz und für die Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen. Lambda Report machte daher seinen Angriff auf die ILGA allein an der Tatsache fest, daß überhaupt Pädo-Gruppen, nämlich NAMBLA (North American Man/Boy Love Association) aus den USA und Vereniging Martijn aus den Niederlanden, Mitglied bei der ILGA sind.

The Report schickte die „Enthüllung“ über die „Pädo-Verbindungen“ der ILGA an alle wichtigen US-Medien, die das Thema sofort aufgriffen. Einer der Höhepunkte war eine Diskussion zwischen Vertretern von NAMBLA, der ILGA und The Report in der Larry-King-Show auf CNN am 13. Oktober 1993.

The Report schickte die „Enthüllung“ auch an die US-Mission bei den Vereinten Nationen und forderte seine LeserInnen auf, dasselbe zu tun. Die US-Vertretung bei der UNO schrieb daraufhin an die ILGA und bat um Klärung. Die US-Mission erklärte, die USA hätten nie der Gewährung des NGO-Status an die ILGA zugestimmt, hätte man gewußt, daß der ILGA Pädophilengruppen angehören. Sie wolle die Angelegenheit noch 1993 in der nächstmöglichen Sitzung der zuständigen UNO-Gremien zur Sprache bringen.

Von da an war nur mehr Schadensbegrenzung möglich. ILGA-AktivistInnen in den USA, Nordamerika, Australien und Europa kontaktierten ihre Außenministerien und UN-Delegationen und konnten erreichen, daß die anderen Staaten die USA in diesem Vorhaben einbremsten, allerdings nur, was das Procedere anbelangt. Man könne und wolle nicht verhindern, daß die USA die Sache bei der nächsten ECOSOC-Sitzung im Juli 1994 auf die Tagesordnung setzt. Kein Staat würde dann aber die ILGA inhaltlich unterstützen. Kein Land will es sich leisten, für die ILGA einzutreten, falls sie bis dahin immer noch pädophile Gruppen unter ihren Mitgliedern hat. Diese Botschaft ist eindeutig und unmißverständlich. Da nützte es auch nichts zu erklären, daß nicht NAMBLA, sondern die ILGA den Status bekommen hat, daß nicht die ILGA die NAMBLA-Positionen unterstützt, sondern umgekehrt NAMBLA die ILGA-Positionen.

Die Aussicht, den NGO-Status wieder zu verlieren, hat natürlich jene ILGA-Mitglieder mobilisiert, die schon immer gegen die Mitgliedschaft von Pädo-Gruppen waren. Und jetzt rächt sich auch die laue Haltung derjenigen Gruppen, denen die Mitgliedschaft von Pädo-Gruppen egal war, solange dies die Arbeit der ILGA nicht behinderte. Seit die ILGA in jüngster Zeit in der Mainstream-Politik mitmischt, werden solche Dinge aber zum Problem, zu Achillesfersen. Und egal, wie man zur Sachfrage Pädophilie steht, müssen sich die einzelnen Mitgliedsgruppen jetzt mit der Frage auseinandersetzen, sollen die Pädo-Gruppen ausgeschlossen werden oder nicht. Das Sekretariatekomitee der ILGA hat jedenfalls im November 1993 in New York beschlossen, einen entsprechenden Antrag auf der nächsten Jahreskonferenz, die im Juni/Juli 1994 ebenfalls in New York stattfinden wird, zu stellen. Nur die Jahreskonferenz kann über diese Frage entscheiden.

Eines ist klar: Die ILGA steht damit vor einer wichtigen Entscheidung: Egal, wie die Abstimmung ausgehen wird, ist damit zu rechnen, daß ILGA-Mitgliedsorganisationen austreten werden. Findet sich eine 80-Prozent-Mehrheit für den Ausschluß, werden sicherlich einige fundamentalistische Gruppen austreten. Findet sich keine erforderliche Mehrheit dafür, werden jene Gruppen die ILGA verlassen, die nicht weiter auf Selbsterfahrungsniveau im eigenen Saft dahinschmoren, sondern Realpolitik betreiben möchten. Eine ILGA mit dem Bleigewicht Pädogruppen am Bein kann jedoch nicht mehr viel erreichen – sie ist an ihre Grenzen gestoßen.

Man braucht sich ja nur vorzustellen, wie es wäre, wenn die österreichische Lesben- und Schwulenbewegung je pädophile Positionen vertreten hätte – wir hätten gleich einpacken können, denn jeder Gegner könnte uns mit dem Hinweis darauf überall desavouieren. In London wurde daher beschlossen, mit dem ILGA-Antrag auf NGO-Stauts beim Europarat noch zu warten, bis die Pädo-Frage im Juli geklärt wird. Natürlich wird den RealpolitikerInnen jetzt „Pragmatismus“ vorgeworfen, aber wenn die ILGA in der Mainstream-Politik mitmischen will, wird sie gewisse Spielregeln nicht außer Kraft setzen können. Wie irrational die Angriffe auf die ILGA auch sind, sie sind Realität, auch wenn dies manche TräumerInnen in der Bewegung nicht wahrhaben möchten.

NAMBLA weigert sich jedenfalls, die ILGA freiwillig zu verlassen (der Konflikt bringt ihrer Sache natürlich jetzt viel Publizität), und fordert die „Solidarität“ der anderen Gruppen. Und wo bleibt die Solidarität von NAMBLA? Der Nutzen, den NAMBLA aus der Mitgliedschaft in der ILGA ziehen kann, steht in keinem Verhältnis zum Schaden, den sie damit der ILGA verursacht – und damit Lesben und Schwulen auf der ganzen Welt. Denn endlich wäre die ILGA soweit, in und durch all diese internationalen Organisationen für die Verbesserung der Lage von Lesben und Schwulen weltweit wirklich Substantielles zu tun, und speziell für Menschen in jenen Weltregionen, in denen keine starke Bewegung wie in Nordamerika oder Westeuropa existiert.

Aber das ist NAMBLA offenbar egal. Anscheinend gibt es Menschen und Gruppen, die nicht wollen, daß die internationale Lesben- und Schwulenbewegung Erfolge erzielt. Den meisten Leuten ist gar nicht bewußt, was hier alles auf dem Spiel steht, welche einmaligen Chancen sich da auftun und möglicherweise vergeben werden. Und so muß man sich wirklich fragen, warum NAMBLA nicht freiwillig die Mitgliedschaft in der ILGA aufgibt und – etwa mit heterosexuellen Pädogruppen – eine internationale Pädo-Vereinigung gründet. In der Tat stört es nicht wenige Lesben und Schwule, daß Pädophilie immer nur mit Homosexualität in Verbindung gebracht wird. Und was hat NAMBLA von einer gespaltenen ILGA? Das wird ihrem Anliegen kaum weiterhelfen.

In New York wird die Gretchenfrage gestellt werden müssen – eine Spaltung der ILGA scheint wahrscheinlich, man kann nur hoffen, daß die Realo-Fraktion, die sich abspalten könnte, stark genug sein wird, um die internationale politische Arbeit im bisherigen Umfang weiterzuführen – aber da bin ich eigentlich sehr optimistisch.