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Nur mehr Österreich und Albanien oder: Perestrojka auch bei uns!

Erschienen am 15. Januar 1990

Unglaubliche, geradezu atemberaubende Veränderungen haben in den letzten Monaten in Osteuropa stattgefunden. Gegängelte und unterdrückte Menschen haben sich aus staatlicher Bevormundung und von der Einmischung in ihre inneren – persönlichen – Angelegenheiten befreit. Ganze Völker haben einmal mehr bewiesen, daß der Freiheitsdrang des Menschen auf Dauer nicht unter der Knute gehalten werden kann. Diese Befreiung vollzog sich unter dem Jubel der Massenmedien in unserem Land, denen völlig entgangen ist, daß auch Österreich in vielen Bereichen eine gehörige Portion Perestrojka und Glasnost bitter nötig hätte – besonders aber im gesellschaftspolitischen.

Denn nach dem liberalen Aufbruch unter Kreisky in den 70ern ist Österreich in den 80ern wieder in einen Zustand zurückgefallen, der auch Stagnation und Aufwind für einen sklerotischen Katholizismus geprägt war. Während Rumänien die politischen Gefangenen freiläßt, bereitet man in Kärnten gerade einen stalinistischen Schauprozeß mit mindestens einem Dutzend Angeklagten vor. Das Delikt, dessentwegen sie vor Gericht gestellt werden sollen, lautet nicht „antisozialistische Umtriebe“, sondern „homosexuelle Normabweichung“. Angeklagt nach § 209 StGB, dessen Entsprechung im DDR-Strafgesetz eine DDR sogar vor der Mauer beseitigt hat.

Während in der DDR der Staatssicherheitsdienst aufgelöst wurde, dürfen in Österreich Polizisten nach wie vor willkürlich und ungestraft Demonstranten niederprügeln und Schwulen und Lesben bei Kundgebungen unerwünschte Spruchbänder entreißen. Während sich die TschechInnen und SlowakInnen einen hochkarätig integren Präsidenten erkämpft, ja er-demonstriert haben, haben sich die ÖsterreicherInnen eine nachweislich der Lüge überführte Gedächtnislücke zum Präsidenten gewählt, dessen Name mir entfallen ist…

Österreich und Albanien – die letzten Fossile in einem Europa des Aufbruchs! Wann wird endlich der frische Wind aus der gorbatschowschen Tundra auch in Österreich Einzug halten und alle Ewiggestrigen, Apparatschiks, Betonköpfe und Mensch gewordene Peinlichkeiten aus den Parteizentralen, Amtsgebäuden, vom Ballhausplatz und aus der Hofburg fegen? Und das Strafrecht endlich entlüften?

So gesehen können auch die Verlautbarungen mancher neuer Staatsmänner in Osteuropa, sie strebten das „österreichische Modell“ an, nur als Uninformiertheit, als höfliche Antwort auf entsprechende Suggestivfragen des österreichischen Boulevards – oder als gefährliche Drohung gegen das Volk – verstanden werden.

Und es war in der Tat die größte Peinlichkeit seit langem, wie die satten ZuseherInnen diesseits des aufgezogenen Eisernen Vorhangs gönnerhaft die Entwicklungen in Osteuropa verfolgt und dabei offenbar übersehen haben, wie dringend auch bei uns Reformen und eine Abrechnung mit der herrschenden PolitikerInnen-Kaste wären. Aber hierzulande scheinen die Leute vom zivilen Gehorsam nicht genug bekommen zu können. Das geht schon soweit, daß Protest und Aufbegehren an der Börse gehandelt werden. Was man politisch nicht durchsetzen kann, kann käuflich erworben werden. Die kapitalistische Version des osteuropäischen Aufbruchs. Kauft die Au frei! Rettet die Tropenwälder, werdet Besitzer eines Stücks brasilianischen Regenwalds! Politische Ziele als Spekulationsobjekte für Geschäftemacher.

Es dauert sicher nicht mehr lange, bis man sich die Menschenrechte, die einem von der Gesellschaft politisch vorenthalten werden, gegen bares Geld kaufen kann – vielleicht in Form von Aktien einer Menschenrechtsverwertungsgesellschaft. Bingo! Wir Lesben und Schwulen sollten jetzt schon beginnen, uns das nötige Kapital anzusparen.

Tröstlich und beruhigend im Zusammenhang mit den Umwälzungen in Osteuropa ist, daß niemand sie vorausgesehen, erahnt hat. Das Volk, die Menschen haben sich einen Dreck um die Fachleute, die WissenschaftlerInnen, die PolitikerInnen und auch sämtliche Geheimdienste gekümmert, sich um keine Analysen und Theorien geschert, sondern einfach und ohne Rücksicht Revolution gemacht. Geschichte geschrieben. Besonders die Geheimdienste haben sich einmal mehr zum Gespött aller gemacht und unter Beweis gestellt, welch Fehlinvestition sie im Fall des Falles sind.

Rumänien hat uns auch wieder deutlich die Rolle der Kirche vor Augen geführt. Die Kirchenführer sind einmal mehr auf der Seite der Mächtigen, der Unterdrücker gestanden, haben das System gestützt, während dissidente Pfarrer, wie László Tőkés vom Regime verfolgt und von den eigenen Kirchenoberen im Stich gelassen wurden. Und da sind wir bei einer weiteren Parallele zu Österreich: Die Aussprüche Erzbischof Eders zu AIDS und Homosexualität zeigen uns ebenfalls, wie weit sich Kirchenführung und Kirchenbasis voneinander entfernt haben, daß es ersterer nur um die Machterhaltung geht…

Ich fürchte, wir müssen radikaler und unnachgiebiger mit all unseren Unterdrückern sein, mit den österreichischen Breschnjews, Honeckers und Ceaușescus.

 

Kurts Leidartikel LN 1/1990