Seite wählen
  1. Diverse LN-Beiträge
  2. Island: Gay Pride in Zeiten der Krise

Island: Gay Pride in Zeiten der Krise

Veröffentlicht am 10. September 2009
2009 besuchte ich Island – es war im Jahr nach der Finanzkrise, die das Land (fast) in den Staatsbankrott getrieben hatte. Ich legte meine Reise so, dass ich am 8. August in der Hauptstadt Reykjavík an Glæðigangan, der Regenbogenparade, teilnehmen konnte. Mein Reisebericht erschien in den LN 5/2009.

Jóhanna Sigurðardóttir, Islands offen lesbische Ministerpräsidentin, nahm nicht am Gay Pride teil, aber es fand sich Ersatz: Gleich sieben Look-a-likes auf einem Pick-up führten die Parade an.

Von Arnarhóll, dem Adlerhügel, aus hatte man einen guten Blick auf die Bühne.

Auf der Bühne versammelten sich isländische Top-KünstlerInnen, darunter die Eurovisions-Song-Contest-Veteranen Páll Óskar (Dublin 1997) sowie Friðrik Ómar und Regína Ósk, die mit ihrer Eurobandið Island im Vorjahr in Belgrad vertraten.

Páll Óskar in Aktion

Gleðigangan, der „Umzug der Freude“, ist ein riesiges Volksfest für alle.

Mehr als 99 regenbogenbunte Luftballons werden nach der Bühnenshow in den wolkenverhangenen Himmel entlassen.

Praktisch jedes Geschäft und jedes Lokal im Zentrum Reykjavíks war in Regenbogenfarben dekoriert. Über die LSBT-Parade nicht schlecht staunten wohl die zahlreichen russischen Matrosen...

...des riesigen Segelschulschiffs Круэенштерн (Krusenstern) aus Königsberg/Kaliningrad, das am Pride-Wochenende im Hafen vor Anker lag. Sie waren im Stadtbild nicht zu übersehen.

Der Information, dass vom 6. bis 9. August 2009 in Reykjavík die Hinsegin dagar – in etwa: „Queere“ oder „Andersrum-Tage“ – stattfinden, konnte man in den Wochen vor dem Ereignis selbst in den abgelegensten Winkeln Islands nicht entrinnen – auch und gerade nicht als Tourist/in. Dafür sorgte allein schon das englischsprachige Gratismagazin The Reykjavík Grapevine, das auf seiner Titelseite den Pride ankündigte und in riesiger Auflage überall im Land auslag – in jeder Tankstelle, jedem Café, jeder Herberge, jedem Museum, auf allen Flughäfen und in allen Touristen-Informationsbüros sowieso.

Und so verfolgte mich das bunte Cover des Magazins von meiner Ankunft in Akureyri, der zweitgrößten Stadt des Landes (ich kam mit dem Flieger aus Kopenhagen – vgl. Bericht ab S. 19), die ganzen acht Tage über, die ich vor dem Gay-Pride-Wochenende in den dünnbesiedelten Westfjorden, auf der Snæfellsnes-Halbinsel und den Westmänner-Inseln verbrachte.

Und auch in Reykjavík war nicht zu übersehen, dass der Pride bevorstand. Im Zentrum der Stadt und insbesondere auf der Paradenroute – der Einkaufsstraße Laugavegur und ihrer Verlängerung, der Bankastræti – gab es praktisch keine Auslage eines Geschäfts oder Gastronomiebetriebs ohne Dekoration in Regenbogenfarben. Auf Wien umgelegt, müsste man sich das etwa so vorstellen: Alle Auslagen auf Kärntner und/oder Mariahilfer Straße sind in den Farben des Regenbogens geschmückt – wie zu Weihnachten mit Weihnachtsdekoration.

Diese allgegenwärtige mediale und öffentliche Präsenz spiegelt indes die Bedeutung des alljährlichen Gay-Pride-Festivals wider: Es hat sich mittlerweile – heuer fand es zum elften Mal statt – zu einem veritablen Volksfest entwickelt, an dem mindestens zehn Prozent der Gesamtbevölkerung Islands teilnehmen. Von den rund 300.000 EinwohnerInnen leben ohnehin 200.000 im Großraum Reykjavík, aber inzwischen reisen die Leute aus allen Landesteilen extra zu den Hinsegin dagar in die Hauptstadt. Mittlerweile können sich die Andersrum-Tage in Sachen Festivitäten selbst mit dem Nationalfeiertag am 17. Juni messen.

Diese Entwicklung ist auch ganz im Sinne der isländischen Lesben- und Schwulenbewegung. Auf politischer Ebene hat man ja immerhin alles erreicht. Jetzt geht es darum, die Herzen der Menschen zu erobern. Und dies scheint immer mehr zu gelingen. Es ist schon erstaunlich – und fantastisch zugleich – zu sehen, wie selbst pubertierende, offensichtlich heterosexuelle männliche Jugendliche es selbstverständlich (und) „cool“ finden, mit ihren ebenfalls heterosexuellen Freunden mit Regenbogenfähnchen in der Gay-Pride-Parade mitzulaufen und deren Anliegen damit zu unterstützen – anstatt am Rande der Parade in unsicherem Macho-Gehabe blöde homophobe Sprüche zu klopfen, wie das in unseren Breiten wohl eher der Fall ist.

Es gibt wohl wenige Pride-Paraden auf der Welt mit soviel heterosexueller Beteiligung. Viele heterosexuelle Familien nehmen mit Kind und Kegel teil, gehen beim Gleðigangan, dem „Umzug der Freude“, wie er übersetzt heißt, mit – ebenfalls meist mit regenbogenfarbenen Accessoires ausgestattet – und lassen sich danach gemütlich am Arnarhóll nieder, dem Adlerhügel, auf dem die Statue Ingólfur Arnarsons, des ersten Siedlers von Reykjavík, thront. Am Fuße des Hügels an der Hafenfront wird die Bühne aufgebaut, auf der auch heuer wieder isländische Popgrößen, wie Páll Óskar und Eurobandið auftraten. Die ganze Veranstaltung dauerte genau drei Stunden, aber die Paradenstrecke vom Busbahnhof Hlemmur bis zum Platz unterhalb des Arnarhóll ist relativ kurz. Reykjavíks Parade ist klein, aber fein. Das eigentliche historische Zentrum der Stadt ist ja sehr kleinstädtisch, der Laugavegur besteht ja aus bloß einem Fahr- und einem Parkstreifen, weshalb die Paradenroute bei dermaßen starkem Andrang auch schnell hoffnungslos verstopft ist. Dennoch zwängen sich auch schwere LKWs durch die enge Gasse der Zuschauermenge – in Wien würde uns das den Angstschweiß auf die Stirn treiben, aber offenkundig tun wir uns auf der Regenbogenparade mit all den Radstandsecuritys etc. viel zu viel an!

 

Unsichtbare Krise

Bis zuletzt spekulierten übrigens die Medien, ob die offen lesbische Premierministerin Jóhanna Sigurðardóttir an der Parade teilnehmen bzw. auf der Abschlusskundgebung sprechen würde, doch sie blieb der Veranstaltung fern. Die Stimmung beim Abschlusskonzert war nichtsdestotrotz ausgelassen. Momentan haben die IsländerInnen ohnehin wenig Grund zum Feiern – umso mehr scheint jede Ablenkung willkommen zu sein. Wiewohl: Von der katastrophalen Finanz- und Wirtschaftskrise merkt man auf den ersten Blick wenig. Island leidet offenbar auf hohem Niveau. Stadt und Land machen einen sehr wohlhabenden Eindruck, Reykjavík pulsiert nach wie vor, überhaupt war für mich die Stadt, die ich zuletzt vor 27 Jahren besucht hatte (vgl. LN 4/1982, S. 31 f), kaum mehr wiederzuerkennen.

Der größte Unterschied zu früher ist für den Besucher aber das Preisniveau. War früher alles zwei- bis dreimal teurer als in Österreich, liegen die Preise wegen des Kurssturzes der isländischen Währung (die Krone verlor mehr als die Hälfte ihres Wertes) derzeit auf hiesigem Niveau oder mitunter sogar darunter. Ein Cappuccino im Schanigarten des legendären Hotels Borg kostet umgerechnet € 2,40 (!), um wohlfeile € 14,– kann man im Restaurant Lava in der Bláa Lónið, der Blauen Lagune, beim Mittagsbuffet soviel isländische Spezialitäten verdrücken, wie man will und schafft. Die Übernachtung in einer Jugendherberge kostet weniger als zehn Euro. Nur der Alkohol in Bars und Gaststätten ist nach wie vor sauteuer.

Mittlerweile scheinen sich die IsländerInnen vom ersten Schock der Krise wieder erholt zu haben und denken rationaler. Die Skepsis gegen einen EU-Beitritt wächst, und fast täglich gibt es vor dem Parlament, dem Alþingi, Kundgebungen gegen einen Beitritt. Und in der Tat würde man damit die jetzige Cholera gegen die Pest eintauschen. Auch ich leistete in meinen Gesprächen mit Einheimischen missionarisch Überzeugungsarbeit gegen einen EU-Beitritt. Ein solcher würde dem Land wohl definitiv den Todesstoss versetzen, denn dann würde es auch noch die Kontrolle über seine natürlichen Reichtümer verlieren: Die Fischereiflotten Spaniens und anderer EU-Länder würden in wenigen Jahren die Fischgründe Islands leerfischen, internationale Konzerne sich die großen Energieressourcen unter den Nagel reißen. Mehr als naiv äußerte sich dazu der isländische Außenminister Össur Skarpéðinsson in einem Interview im Standard vom 25. Juli 2009. Die diesbezüglichen Aussagen des Sozialdemokraten über mögliche Zusagen und Haltungsänderungen seitens der EU kann man bestenfalls als Wunschdenken bezeichnen.

Dabei ist mehr als offensichtlich, dass gerade die Politik der EU die Hauptschuld an Islands derzeitiger Misere trägt. Der zeitgeistige, von der EU auch im Rahmen des EWR, dem Island ja bereits angehört, vorangetriebene Privatisierungswahn hat ja dazu geführt, dass Island 2006 seine drei größten, damals verstaatlichten und profitablen Banken privatisiert hat. Danach benötigten die Manager von Glitnir (mittlerweile Íslandsbanki), Kaupþing und Landsbankinn keine drei Jahre, um diese drei Banken in den Konkurs zu führen. Und dabei heißt es immer, der Staat sei kein guter Unternehmer, die Privaten könnten besser wirtschaften. Von wegen! Da jedoch das Bankwesen ein unverzichtbarer Teil einer funktionierenden Volkswirtschaft ist, musste der Staat die bankrotten Banken samt ihren gigantischen Schulden, die noch ganze Generationen von IsländerInnen abzahlen werden müssen, wieder übernehmen. Ein Beweis mehr dafür, dass zumindest ein Teil des Bankwesens – wie auch die sogenannte Daseinsvorsorge – in staatliche Hand gehört und damit im Besitz aller BürgerInnen bleiben muss.

Dass ausgerechnet ein Land wie Großbritannien, das wegen seiner eigenen finanzwirtschaftlichen Interessen eine wirksame Kontrolle und Regulierung der entfesselten Finanzwirtschaft stets nach Kräften verhindert hat und auch jetzt noch vehement ablehnt (und dadurch erst ermöglicht hat, dass die isländischen Bankenmanager durch ihre Spekulationen auch in der britischen Wirtschaft größere Flurschäden anrichten konnten), jetzt die Regierung Islands damit erpresst, einem EU-Beitritt nur dann zustimmen zu wollen, wenn das kleine Land mit seinen 300.000 EinwohnerInnen sich verpflichtet, die von den privaten Banken in Großbritannien hinterlassenen Milliardenschulden zurückzuzahlen, bringt die IsländerInnen zu Recht auf die Palme und macht die EU nicht gerade beliebter. Überhaupt dämmert es ihnen allmählich, dass ihr Hauptmotiv für einen EU-Beitritt, nämlich die schwache Krone gegen den starken Euro zu tauschen, ohnehin Zukunftsmusik ist, sollte die EU nicht unrealistische Zugeständnisse machen, denn angesichts seiner jetzigen gigantischen Staatsschulden wird Island die für eine Euro-Einführung erforderlichen Maastricht-Kriterien in 50 Jahren nicht erfüllen können!

Jedenfalls haben die IsländerInnen ihren hellen politischen Verstand bereits unter Beweis gestellt, als sie vergangenen April die konservative Langzeitherrschaft in die Wüste geschickt und eine rot-grüne Mehrheit gewählt haben – anders als in Österreich, wo die Bevölkerung aus Schaden nie klug wird und wo selbst nach den sieben Katastrophenjahren 2000–2006 erst recht wieder 60 Prozent der WählerInnen ihre Stimme der ÖVP, FPÖ und dem BZÖ gegeben haben. Die Chancen, dass die IsländerInnen in einem Referendum den EU-Beitritt ablehnen werden, stehen also recht gut.