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Buchrezension in Stimme von und für Minderheiten Nr. 56

Starres Korsett von Theorien und Kategorien

Veröffentlicht am 1. Oktober 2005
In der Herbstausgabe 2005 der Stimme von und für Minderheiten rezensierte ich Matti Bunzls Buch Symptome der Moderne. Juden und Queers im Wien des späten 20. Jahrhunderts.

Auf den ersten Blick mutet es etwas merkwürdig an, in einer vergleichenden Studie die Entwicklung der Situation von Juden und Jüdinnen sowie Lesben und Schwulen beleuchten zu wollen, wie es sich Matti Bunzl vorgenommen hat. Liest man dann die Darstellung dieser Entwicklung, tun sich jedoch in der Tat zahlreiche augenfällige Gemeinsamkeiten auf: Beide Gruppen wurden nach 1945 lange Zeit ausgegrenzt und unterdrückt, und ihre gesellschaftliche Emanzipation ab den späten 1970er und frühen 1980er Jahre verläuft mitunter parallel.

Problematisch wird diese vergleichende Schilderung allerdings dann doch wieder, wenn der Autor versucht, diese Entwicklungen in ein starres Korsett wissenschaftlicher Theorien und Kategorien wie Moderne und Postmoderne zu zwängen. Das beginnt schon bei einer seiner Ausgangsthesen, wonach Antisemitismus und Homophobie Ausgrenzungstatbestände darstellten, deren Funktion es sei, den Nationalstaat rein zu halten und das „Andere“ zu bannen. Für die Gruppe der Lesben und Schwule ist das natürlich eine abstruse These – natürlich ist es darum gegangen, sie unsichtbar zu machen und aus der Gesellschaft auszugrenzen, aber aus dem Nationalstaat? Wohin hätten sie auswandern sollen? Die wesentliche gemeinsame Ursache für Antisemitismus und Homophobie – die Ideologie der römisch-katholischen Kirche – wird hingegen kaum näher behandelt. Auch der Umstand, daß für die Homophobie in Österreich die ÖVP viel maßgeblicher verantwortlich war und ist als die für Antisemitismus „zuständige“ FPÖ, bleibt in Bunzls Analyse weitgehend ausgeblendet.

Für den Rezensenten, der seit 25 Jahren in der österreichischen Lesben- und Schwulenbewegung an vorderster Front aktiv ist und sie hautnah miterlebt hat, sind auch viele Schlußfolgerungen nicht nachvollziehbar. Zum Teil beruhen die mitunter apodiktisch postulierten Thesen und Schlüsse auf unbedeutenden Einzeläußerungen oder trivialen Einzelereignissen und müssen schon aus diesem Grund als ziemlich gewagt eingestuft werden (als Beispiel sei etwa die Behauptung genannt, die Homosexuelle Initiative (HOSI) Wien hätte in ihren Anfängen eine strikte Trennung zwischen einer politisierten Lesben- und Schwulenbewegung und einer kommerziellen Homosexuellen-Szene gewollt und vertreten; das ist einfach Unsinn).

Bunzl scheint oft auch Ursache und Wirkung zu verwechseln, was durch seine selektive Wahrnehmung der Entwicklung der Bewegung bedingt sein mag. Für ihn stellt etwa die erste Wiener Regenbogen-Parade 1996 einen bedeutsamen Wendepunkt dar, brachte sie doch im Gegensatz zu früheren Demos nicht hunderte, sondern tausende TeilnehmerInnen auf die Straße. Bunzl interpretiert diesen Erfolg allerdings nicht als Folge von 15 Jahren – auch politischer – Emanzipationsarbeit, sondern als Fusion von „Kommerz und Bewegung“. Völlig ignoriert hat er in diesem Zusammenhang etwa die professionelle Antwort der HOSI Wien auf die AIDS-Krise: Die Gründung und Arbeit der Österreichischen AIDS-Hilfe hat bereits in der 2. Hälfte der 1980er Jahre dazu geführt, daß die Homosexuellen als Gruppe – trotz oder gerade wegen AIDS – sehr wohl im Mainstream der Gesellschaft angekommen waren und durch ihren fast „staatstragenden“ Einsatz für die Volksgesundheit ein neues Selbstbewußtsein entwickelt hatten. Solche Faktoren und der banale Umstand, daß die Zeit reif geworden war, waren die Ursachen für den Erfolg der Regenbogen-Parade – und nicht einfach, weil die Parole ausgegeben wurde, die Parade als lustvolle Party statt als langweilige Demo aufzuziehen.

Auch bei den reinen Fakten sind Bunzl etliche Fehler unterlaufen, etwa sind AktivistInnen 1994 nicht ins Rathaus „eingedrungen“ (S. 177), um eine „Aktion Standesamt“ durchzuführen, sondern sie haben die Räume dafür schlicht angemietet. Auch wird im Buch die EU und der Europarat verwechselt, die Parlamentarische Versammlung des Europarats zum „Parlament des Europäischen Rats“ (S. 251), was indes auch der Übersetzung geschuldet sein mag. Zudem überschätzt Bunzl den angeblich positiven Einfluß der EU auf die rechtliche Entwicklung in Österreich völlig, hat doch die vermeintlich pro-europäische ÖVP stets betont, daß die EU in diesem Bereich über keine Kompetenzen verfügt, und dementsprechend agiert.

Was die Emanzipation der jüdischen Gemeinschaft in Wien nach 1945 betrifft, war es recht spannend, deren Entwicklung in dieser Geballtheit zu lesen: von der Feindseligkeit des offiziellen Österreichs unmittelbar nach dem Krieg über Viktor Reimanns Serie „Die Juden in Österreich“ in der Kronenzeitung 1974 bis zur Waldheim-Affäre in den 80ern und die blau-schwarze Wende 2000. Angesichts der vielen faktischen Fehler und der oft nicht wirklich nachvollziehbaren Analysen und Schlußfolgerungen Bunzls für den lesbisch-schwulen Bereich hat sich allerdings bei mir dann auch für den jüdischen Teil Skepsis eingestellt, deren Berechtigung ich als Nichtexperte auf diesem Gebiet allerdings nicht bewerten kann. Das müssen andere beurteilen. Als einigermaßen umfassende Darstellung der Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung in Wien kann Bunzls Buch jedenfalls nicht empfohlen werden.

 

Matti Bunzl: Symptome der Moderne. Juden und Queers im Wien des späten 20. Jahrhunderts. Aus dem Amerikanischen von Carolyn Oesterle. Edition Parabasen, Rombach-Verlag: Freiburg/Breisgau 2004.