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Beitrag in den Ost-West-Gegeninformationen Nr. 4/2004 (Jg. 16)

Viel Licht am rosa Horizont

Veröffentlicht am 1. Januar 2005
Die Ost-West-Gegeninformationen, herausgegeben vom gleichnamigen Verein in Graz, dem „Center for the Study of Balkan Societies and Cultures“ an der Universität Graz und dem „Arbeitsbereich Geschichte und Kultur“ am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, widmeten ihre Ausgabe 4/2004 (die allerdings erst im Jänner 2005 erschien) dem Thema Sexualität. Ich steuerte einen ausführlichen Beitrag über Homosexualität in Ost- und Südosteuropa bei.

In Ost- und Südosteuropa hat sich in den letzten 15 Jahren auch in Sachen Enttabuisierung von Homosexualität sehr viel getan, am deutlichsten lässt sich das anhand der Entwicklungen im Bereich des Strafrechts und der Selbstorganisation von Lesben und Schwulen ablesen; langsamer hingegen ändern sich – wie immer – die Mentalitäten der Menschen und die Einstellungen der Allgemeinbevölkerung.

 

Die strafrechtliche Situation

 

Das kommunistische Erbe aus der Zeit vor 1989 war nicht einheitlich. Bestand noch in einigen ehemaligen Ostblockstaaten ein Totalverbot der Homosexualität (also auch einvernehmlicher Handlungen unter Erwachsenen), waren andere hingegen sogar Vorreiter in Sachen Liberalisierung gewesen. So wurde Homosexualität etwa in der Tschechoslowakei und Ungarn 1961 – zehn Jahre vor Österreich – entkriminalisiert; und die DDR, die ohnehin die „mildere“ Version des § 175 StGB aus der Weimarer Republik wieder in Kraft gesetzt hatte, schaffte diesen 1968 ab, während in der BRD die von den Nazi 1935 verschärfte Fassung bis 1969 Anwendung fand. In Polen wiederum wurde auch in der kommunistischen Ära kein Verbot eingeführt, weshalb in diesem Bereich die Rechtslage praktisch bis heute auf den Bestimmungen des ersten gesamtpolnischen Strafrechts aus 1932 beruht. Seit damals besteht etwa ein einheitliches Mindestalter von 15 Jahren für alle sexuellen Orientierungen, während sich in Österreich der Kampf gegen den berüchtigten § 209 bis 2002 hinzog.

Dennoch gab es nach dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens plötzlich 20 Staaten mit einem Totalverbot. Da die meisten von ihnen dem Europarat betreten wollten, bemühte sich der europäischen Lesben- und Schwulenverband ILGA-Europa durch entsprechendes Lobbying – erfolgreich – darum, dass die Aufhebung des Totalverbots homosexueller Handlungen zur Aufnahmebedingung in den Europarat gemacht wurde. Immerhin hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem historischen Urteil 1981 endlich festgestellt, dass ein solches Totalverbot die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt. Man konnte wohl schwerlich ein neues Mitglied aufnehmen, das von vornherein gegen die Konvention verstößt. Besagtes Urteil aus 1981 war indes keineswegs bahnbrechend gewesen – zuvor waren jahrzehntelang entsprechende Beschwerden als unzulässig abgewiesen worden. 1981 kannten nur mehr drei der damaligen Mitgliedsstaaten ein solches Totalverbot. Für die Aufnahme der neuen Staaten in den Europarat sollte diese Entscheidung in den 1990er Jahren jedoch dann sehr relevant werden. Und so fiel das Totalverbot in Albanien (1995), Aserbaidschan (2000), Armenien (2003), Bosnien-Herzegowina (Muslimisch-Kroatische Föderation 1998; Republika Srpska 2000), Estland (1992), Georgien (2000), Lettland (1992), Litauen (1993), Mazedonien (1997), Moldova (1995), Rumänien (1996), Russland (1993), Serbien (1994) und der Ukraine (1991). Und auch vier ehemalige Sowjetrepubliken, die nicht dem Europarat beigetreten sind, haben sich von diesem Sowjeterbe mittlerweile getrennt: Belarus, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan. Nur in Turkmenistan und Usbekistan besteht das Totalverbot heute noch.

Einige Länder führten jedoch anlässlich der Aufhebung des Totalverbots diskriminierende Mindestaltersbestimmungen ein, etwa die drei baltischen Staaten, Rumänien oder Russland. Die Tschechoslowakei wiederum schaffte ihre höhere Mindestaltersgrenze für homosexuelle Handlungen (18 Jahre statt 15 für heterosexuelle), die seit der Aufhebung des Totalverbots 1961 bestand, gleich nach der Samtenen Revolution – 1990 – ab.

Die Absicht ehemaliger Ostblockländer, der Europäischen Union beizutreten, bot dann den Hebel, solche diskriminierenden Mindestaltersbestimmungen zu Fall zu bringen. Auch hier war es vor allem dem Lobbying der ILGA-Europa zu verdanken, dass dies schließlich gelang. Grundlage dafür bildete im Wesentlichen eine am 17. September 1998 verabschiedete Entschließung des Europäischen Parlaments (B4-0824/98 und 0852/94), in der es alle beitrittswilligen Länder – namentlich Bulgarien, Estland, Ungarn, Litauen, Rumänien, aber auch Zypern – aufforderte, „alle Gesetze aufzuheben, die die Menschenrechte von Lesben und Schwulen verletzen“, und bekräftigte, „dass es dem Beitritt keines Staates seine Zustimmung geben wird, der in seiner Gesetzgebung oder Politik die Menschenrechte von Lesben und Schwulen verletzt“. Auch die EU-Kommission griff die Aufforderung des Europa-Parlaments auf und berücksichtigte die Menschenrechtslage von Lesben und Schwulen in ihren Verhandlungen mit den Beitrittskandidatenländern und in ihren jährlichen Fortschrittsberichten.

Wieder war ein Urteil der Menschenrechtsorgane des Europarats gerade rechtzeitig ergangen. Und zwar hatte die Europäische Menschenrechtskommission 1997 in einer Beschwerde gegen das Vereinigte Königreich befunden, dass unterschiedliche Mindestaltersgrenzen für homo- und heterosexuelle Handlungen eine Verletzung der EMRK darstellten. Auch dies keine revolutionäre Entscheidung: Nur mehr eine Handvoll der Europaratsmitgliedsstaaten hatten zu dem Zeitpunkt noch derartige Bestimmungen in ihren Strafgesetzbüchern. Jedenfalls konnten sich ILGA-Europa und Europa-Parlament auf diese Entscheidung berufen, als sie nun die Anwendung der 1993 aufgestellten Kopenhagener Beitrittskriterien auf diese Menschenrechtsfrage einforderten. Historischer Treppenwitz: Noch 1995 hatte die Europäische Menschenrechtskommission eine Beschwerde gegen § 209 öStGB als unzulässig abgewiesen – aber Österreich war vor seinem Beitritt zur EU ohnehin nicht auf die Kopenhagener Kriterien hin abgeklopft worden.

Und so geschah es, dass – etwas unfair – die neuen Beitrittsländer auf diesen Aspekt hin überprüft wurden und bis zu ihrem Beitritt diskriminierende Strafrechtsparagraphen aufheben mussten, während „alteingesessene“ Mitglieder wie Portugal, Griechenland und Österreich ihre diskriminierenden Bestimmungen vorerst beibehalten konnten. Lettland hatte sein höheres „Schutzalter“ bereits 1998 vor der erwähnten EP-Resolution aufgehoben. Auch Rumänien und Bulgarien haben dies in Hinblick auf ihren Beitritt mittlerweile getan, und zwar 2001 bzw. 2004. Aber auch Russland (1996) und Moldova (2002) haben ihre diskriminierenden „Schutzaltersgrenzen“ inzwischen wieder abgeschafft. Somit bestehen derartige Sonderstrafgesetze unter den ehemaligen Ostblockländern heute nur mehr in Albanien und Serbien.

 

Antidiskriminierungsbestimmungen

 

Der EU ist es im Wesentlichen auch zu verdanken, dass in ihren acht neuen Mitgliedsstaaten aus dem ehemaligen Ostblock, aber auch in Bulgarien, Rumänien und in rund der Hälfte der alten Mitgliedsstaaten – nicht zuletzt in Österreich – heute ein umfassendes Verbot der Diskriminierung u. a. aufgrund der sexuellen Orientierung in der Arbeitswelt besteht. Im Dezember 2000 trat nämlich die entsprechende EU-Richtlinie 2000/78 „zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf“ in Kraft, die auf Grundlage des Artikels 13 EG-Vertrag in der Fassung des Amsterdamer Vertrags verabschiedet worden und von den Mitgliedsstaaten bis Dezember 2003 bzw. bis spätestens zum Beitritt im Mai 2004 in nationales Recht umzusetzen war.

Allerdings gab es in einigen – alten wie neuen – Mitgliedsstaaten Probleme mit der rechtzeitigen und korrekten Umsetzung der Richtlinie. So weigerten sich anfangs etwa die Parlamente Lettlands und der Slowakei, „sexuelle Orientierung“ als Diskriminierungsgrund in die jeweiligen Gesetze aufzunehmen, was eindeutig EU-rechtswidrig ist. Andere Länder, wie etwa Bulgarien, haben vorbildliche Antidiskriminierungsbestimmungen verabschiedet, die allerdings in starkem Kontrast zur alltäglichen Realität von Lesben und Schwulen stehen.

Auf jeden Fall ist festzuhalten, dass diese EU-Richtlinie das wichtigste und bedeutendste einzelne Stück Gesetzgebung in der Geschichte für Lesben und Schwule ist, denn trotz aller Implementierungsschwierigkeiten bedeutet sie nicht mehr und nicht weniger, als dass 27 (und gegebenenfalls mehr) Staaten Europas Antidiskriminierungsgesetze für den Bereich der Arbeitswelt erlassen müssen. Auch hier ist es in erster Linie das Verdienst der ILGA-Europa und ihrer Mitgliedsorganisationen in den einzelnen Ländern gewesen, dass „sexuelle Orientierung“ als Schutzkategorie zuerst in den Artikel 13 EG-Vertrag und danach in die Richtlinie Eingang gefunden hat.

Davor hat sich jedenfalls im Bereich der Nichtdiskriminierung in den Ländern Ost- und Südosteuropas nicht viel getan. Nur Slowenien schuf 1994 einen strafrechtlichen Tatbestand der Ungleichbehandlung u. a. aufgrund der sexuellen Orientierung.1 Eine ähnliche Bestimmung trat im Oktober 2000 in der Republika Srpska in Kraft. Im Juli 2003 verabschiedete darüber hinaus das kroatische Parlament Antidiskriminierungsbestimmungen im Straf- und Arbeitsrecht, die sexuelle Orientierung ausdrücklich miteinschließen.

 

Partnerschaftsrecht

 

Auch im Bereich der rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften hinken die Länder Ost- und Südosteuropas hinterdrein. Während in Westeuropa mittlerweile dreizehn Staaten dafür unterschiedliche Rechtsinstitute geschaffen und die Niederlande und Belgien sogar die standesamtliche Ehe geöffnet haben, bestehen derartige gesetzliche Bestimmungen nur in Ungarn und Kroatien in rudimentärer Form.

In Ungarn hatte der Verfassungsgerichtshof bereits 1995 – fast könnte man meinen, in mustergültiger Übererfüllung der vermeintlichen Erwartungen Europas an die Menschenrechtsstandards – in einer Beschwerde erkannt, daß die gesetzliche Definition der Lebensgemeinschaft – im Gegensatz zur Ehe – auch gleichgeschlechtliche Verbindungen miteinschließen müsse, und dem Gesetzgeber aufgetragen, die gesetzlichen Bestimmungen innerhalb eines Jahres entsprechend zu reparieren, was dieser auch tat. Da in Ungarn die Lebensgemeinschaft schon mit sehr vielen der Rechte und Pflichten der Ehe ausgestattet ist, stellte diese Entwicklung einen großen Fortschritt dar.

Im Juli 2003 hat der Sabor, das Parlament in Zagreb, ein Gesetz über die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften beschlossen und damit einige wichtige Rechte auf gleichgeschlechtliche Paare ausgeweitet, etwa die Mitversicherungsmöglichkeit in der gesetzlichen Sozialversicherung.

Mit Gesetzesinitiativen zur rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften mussten sich auch schon die Parlamente Lettlands, Tschechiens und Sloweniens befassen. In Lettland scheiterte die Initiative allerdings genauso wie bisher mindestens dreimal in Tschechien. In Slowenien liegt die Regierungsvorlage zur Zeit noch zur Behandlung im Parlament. In Polen hat der Senat überraschenderweise einer Gesetzesvorlage im Dezember 2004 mehrheitlich zugestimmt, aber sie wird im Sejm wohl auf heftigen Widerstand stoßen; ihre Verabschiedung gilt eher als unwahrscheinlich. Die Diskussion über die „Homo-Ehe“ hat auf alle Fälle längst die Staaten Ost- und Südosteuropas erreicht.

 

Die Lesben- und Schwulenbewegung

 

Was die Lesben- und Schwulenbewegung in Ost- und Südosteuropa betrifft, ist es ebenfalls schwierig bis unmöglich, ihre Lage und Entwicklung zu verallgemeinern – zu unterschiedlich sind diese zwischen Wladiwostok und Warschau, Tallinn und Skopje, Bratislava und Tirana, Minsk und Chișinău vor und nach 1989 gewesen.

Grundsätzlich gilt auch hier: Nicht überall war das Aufziehen des Eisernen Vorhangs 1989 die Zäsur schlechthin. In vielen Ländern gab es seit den 1980er Jahren rudimentäre Anfänge einer Bewegung, die allerdings bis auf einige Ausnahmen nicht offiziell organisiert war. In der DDR hatten seit 1982 informelle Gruppen bestanden, insbesondere innerhalb der evangelischen Kirche, in Ljubljana organisierten sich Schwule und Lesben im studentischen Kulturzentrum ŠKUC und veranstalteten bereits 1984 ihr erstes Magnus-Festival. Die slowenische Bewegung konnte auch Kontinuität wahren, und so feierten die verschiedenen ŠKUC-Gruppierungen im Vorjahr ihr 20. Bestandsjubiläum. Im restlichen Ex-Jugoslawien ist – kriegsbedingt – erst in den letzten Jahren (wieder) eine halbwegs kampfstarke Bewegung entstanden.

Auch in Polen, in Ungarn oder Leningrad entstanden Mitte der 80er Jahre erste Initiativen. Wie sich nach der Wende herausstellte, standen ihre Aktivitäten unter genauer Beobachtung der Geheimdienste. Auch die Aktivitäten der HOSI Wien, die für die ILGA zwischen 1982 und 1990 den Osteuropa-Informationspool (EEIP) betrieb, in dieser Funktion Kontakt zu AktivistInnen in Osteuropa hielt, für den Informationsaustausch verantwortlich zeichnete, jährliche Berichte herausgab und auch Samisdat-Infos in polnischer Sprache in Polen verbreitete, fanden ihren Niederschlag in den Stasi-Akten. 1988 – noch vor der Wende – gründete sich in Ungarn der erste offiziell zugelassene Lesben- und Schwulenverein Osteuropas, Homeros Lambda. 1987 organisierte die HOSI Wien in Budapest auch die erste – damals noch heimliche – ILGA-Regionalkonferenz für Ost- und Südosteuropa mit. Neun weitere (jährliche) Tagungen sollten bis 1996 folgen. Danach waren sie wohl in dieser Form nicht mehr notwendig. Die osteuropäische Bewegung wurde immer mehr integraler Bestandteil der europäischen Bewegung. 1995 fand die erste gesamteuropäische ILGA-Tagung in Riga statt, 2000 folgte eine weitere in Bukarest, 2004 fand sie in Budapest statt, und 2006 wird Sofia an der Reihe sein.

Außer in Slowenien und Deutschland, wo der heute bedeutendste bundesweite Verband, der LSVD (Lesben- und Schwulenverband in Deutschland), aus einer DDR-Gruppierung hervorging, haben in den anderen Ländern die ersten Gruppen und Vereine nicht bis heute überlebt. In den meisten Ländern ist schon die zweite, dritte oder gar vierte Generation von AktivistInnen bzw. Vereinen am Werk, wobei jetzt mitunter aber die „ältesten“ in diesen neueren Generationen – wie etwa Háttér Társaság a Melegekért in Ungarn – inzwischen auch schon zehn Jahre am Buckel haben.

Die Entwicklungsmöglichkeiten sowohl der Bewegung als auch der schwul/lesbischen Szene bzw. „Community“ sind indes sehr unmittelbar von den allgemeinen historischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umständen bedingt gewesen. In traditionell aufgeklärten Ländern ohne starken Einfluss der Kirche, in denen auch keine strafrechtlichen Sonderbestimmungen groß oder langwierig zu bekämpfen waren, wie etwa in Tschechien, Lettland oder Estland, ist die Bewegung nie besonders politisch stark geworden, sondern eher im sozialen Bereich oder hat sich überhaupt bald kommerzialisiert.

Ein wichtiger Umstand dabei war natürlich auch, dass das freiwillige zivilgesellschaftliche Engagement einerseits keine große Tradition hatte, andererseits auch unter den ökonomischen Voraussetzungen der postkommunistischen Ära keine großen Chancen hatte, sich zu entwickeln. Die Menschen haben oft zwei, drei Jobs (gehabt), um überhaupt einigermaßen zu überleben, und da blieb einfach keine Freizeit für ehrenamtliche Tätigkeit. Und öffentliche Subventionen oder private Gelder, um eine politische Bewegung zu finanzieren, gab es natürlich auch kaum. Einzige Finanzierungsquellen waren Gelder aus dem Westen, meist von westlichen Botschaften, vom Open Society Institute oder ähnlichen Institutionen oder auch von der EU. Einigen Organisationen, insbesondere in Ländern, wo die rechtliche und gesellschaftliche Lage anfangs besonders schlimm war für Lesben und Schwule (was diese Gelder leichter fließen ließ), gelang es, mit westlicher Unterstützung eine beeindruckende Infrastruktur aufzubauen, von der selbst Organisationen im Westen nur träumen können. So verfügt die rumänische Gruppe ACCEPT in Bukarest über ein eigenes Kommunikationszentrum und hatte in ihrer besten Zeit neun Angestellte, und auch die moldawische Gruppe Gender-Doc M kann derzeit sieben Angestellte bezahlen. Aber natürlich kann dort wenig westliches Geld durch die niedrigen Löhne viel bewirken. Und diese Vereine betreiben auch klassisches professionelles Lobbying gegenüber der Politik wie in Westeuropa.

Ohne entsprechende Führungspersönlichkeiten bzw. „Leadership“ in den Vereinen ist die Nachhaltigkeit solcher Investitionen indes nicht immer gegeben, wie viele andere Projekte in der Region zeigen, die ihre Arbeit wieder einstellten, sobald das Geld aus dem Westen versiegt war. In manchen Ländern wiederum sind nie vertrauenswürdige Persönlichkeiten auf den Plan getreten, die eine Organisation selbst mit westlicher Unterstützung auf die Beine stellen hätten können, etwa in Albanien. Es gibt hier viele Erfolgs-, aber auch Misserfolgsstorys.

In einigen Ländern hat sich statt – oder auch neben – klassischer Vereinsaktivität, wie man sie im Westen kennt, eher eine auf Gewinn orientierte kommerzielle Tätigkeit etabliert, und das nicht nur, was Lokale oder Zeitschriften betrifft, sondern auch bis hin zur Partnervermittlung. Gerade etwa ein Riesenland wie Russland verfügt eigentlich über keine adäquate politische Bewegung – weder in den großen Zentren wie Moskau oder Sankt Petersburg – und schon gar nicht einen überregionalen Zusammenschluss.

In jenen Ländern, die gesellschaftlich konservativer sind und wo auch die Kirche wieder oder immer noch über sehr viel Einfluss verfügt, hat sich nicht zuletzt als Reaktion darauf ebenfalls eine stärkere politische Bewegung entwickelt, etwa in Polen oder Litauen, wo sie – genauso wie in Slowenien oder Kroatien – politische Lobbyarbeit betreibt. Ein spezielles Phänomen hat sich in Ex-Jugoslawien in den 1990er Jahre während der Balkankriege herausgebildet. Homosexualität wurde aufgrund der kriegsbedingten Macho-Ideologie total in ein negatives Eck gedrängt. Man sah sich nicht nur als Nation von außen bedroht, sondern durch die Homosexuellen auch von innen, da diese ja in der Regel keine Kinder bekämen. Und das kam Hochverrat gleich in einer Situation, da das Gebären als patriotische Pflicht galt, konnten doch gar nicht genug Kroaten bzw. Serben auf die Welt kommen! Den politischen Gegner als homosexuell zu denunzieren war in den 90er Jahren zwischen Marburg und Ohrid gang und gäbe.

 

Haltungen

 

Die Einstellung der Bevölkerung ist natürlich auch von diesen erwähnten Umständen gekennzeichnet. Wiewohl man hier am allerwenigsten verallgemeinern kann, sind sicherlich die Haltungen in katholisch geprägten Ländern wie Polen konservativer als im liberalen und weltoffeneren Tschechien, Slowenien oder im vorwiegend protestantischen Estland. In ländlichen Gebieten wird man – wie überall auf der Welt – weniger aufgeschlossen sein als in den Metropolen. Im Großen und Ganzen unterscheiden sich die Einstellungen wohl nicht wesentlich von denen in Westeuropa vor vielleicht zwanzig Jahren, wenn überhaupt. Wahrscheinlich müsste man – genauso wie beim Vergleich der Bewegung, eher Regionen in West- und Osteuropa miteinander vergleichen: Da wird sich Griechenland nicht viel von der Slowakei, Italien nicht viel von Ungarn und Polen nicht viel von Österreich unterscheiden. Natürlich gibt es noch totale Entwicklungsgebiete wie Albanien oder viele nichtstädtische Regionen Russlands. Aber die gibt es wohl auch in vielen Teilen West- bzw. Südeuropas.

ILGA- Europa hat versucht, sich ein Bild der Diskriminierungshäufigkeit in den Beitrittsländern zu verschaffen (siehe Literaturhinweise). Ein Vergleich mit Westeuropa ist allerdings schwierig, da dort ähnliche Befragungen anhand desselben Fragebogens nicht durchgeführt worden sind. Aber klar ist: Diskriminierung ist noch immer weit verbreitet, und viel Aufklärungsarbeit ist wohl hie wie dort noch dringend vonnöten – auch wenn die strafrechtliche Diskriminierung weitgehend beseitigt ist.

 

Literatur:

HOSI Wien/Auslandsgruppe (Gudrun Hauer/Kurt Krickler/Marek alias Andrzej Selerowicz/Dieter Schmutzer): Rosa Liebe unterm roten Stern. Zur Lage der Lesben und Schwulen in Osteuropa. Verlag Frühlings Erwachen, Hamburg 1984.

Kurt Krickler: Drei „Pink Papers“ – Materialien der Homosexuellen Initiative Wien:

Nr. 1: Wir wollen heiraten. Rechtliche Anerkennung und Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensformen mit heterosexuellen Lebensformen (mit Übersicht über Regelungen im europäischen Ausland; Stand September 2004)

Nr. 2.: Strafrechtsvergleich: Bestimmungen zur Homosexualität in Europa (Stand März 2003)

Nr. 3: Antidiskriminierungsbestimmungen: Eine Übersicht zur Gesetzeslage in Europa (Stand März 2002).

Alle drei Pink Papers zum Download auf www.hosiwien.at (Menüpunkt „Info“, dann Unterpunkt „Download“ anklicken).

LAMBDA-Nachrichten, Zeitschrift der Homosexuellen Initiative (HOSI) Wien. Zahlreiche Berichte in den Jahrgängen ab 1982 bis laufend.

ILGA-Europe Newsletter, laufende Jahrgänge ab 2001.

ILGA-Europe: Equality for Lesbians and Gay Men. A Relevant Issue in the EU Accession Process. Brüssel 2001.

ILGA-Europe: Meeting the challenge of accession. Surveys on sexual orientation discrimination in the countries joining the European Union. Brüssel 2004.

Alle erwähnten Publikationen der ILGA-Europa können auf ihrem Website www.ilga-europe.org heruntergeladen werden. Dort finden sich auch viele weitere Informationen zum Thema sowie Links zu zahlreichen Lesben- und Schwulenorganisationen und -Websites in Ost- und Südosteuropa.

 

Fußnote:

1 § 141 des neuen slowenischen Strafrechts, das am 1. Jänner 1995 in Kraft trat, lautet:

Wer aus Gründen der Nationalität, Rasse, Hautfarbe, Religion, ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Sprache, einer politischen oder anderen Überzeugung, der sexuellen Orientierung, des Vermögens, der Geburt, der Bildung, des sozialen Status oder irgendeiner anderen Gegebenheit einer Person ein Menschenrecht oder eine Grundfreiheit, die von der internationalen Gemeinschaft anerkannt bzw. durch die Verfassung oder ein Gesetz garantiert werden, vorenthält oder ein solches Recht oder eine solche Grundfreiheit einer Person einschränkt oder wer auf Grundlage einer solchen Unterscheidung einer Person ein besonderes Vorrecht oder Privileg einräumt, ist mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu bestrafen.