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Paragraf 209: Schuld und Sühne

Veröffentlicht am 28. Juni 2002
Nach der Aufhebung des letzten schwulendiskriminierenden Strafrechtsparagrafen rechnete ich in einem Kommentar im Standard mit den VerfassungsrichterInnen ab. Erst im fünften Anlauf hat sich der VfGH endlich bequemt, die Verfassungswidrigkeit des „209ers“ festzustellen. Ich fand es beschämend, dass sich die Höchstrichter für ihre Fehlurteile nicht entschuldigten.

Am 6. Dezember habe ich an dieser Stelle über das Dilemma des Verfassungsgerichtshofs in Sachen § 209 geschrieben: Entweder er stößt sein Urteil aus 1989, mit dem er § 209 für verfassungskonform erklärte, um und gibt damit seinen Irrtum zu, oder er bestätigt es um den Preis, sich lächerlich zu machen und ein paar Monate später vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte korrigiert zu werden. Der VfGH hat nun die erste Option gewählt, seinen Irrtum aus 1989 aber nicht einbekannt.

Der VfGH behauptet, er hätte die jetzige Beschwerde unter einem neuen Bedenken geprüft, das in der Beschwerde aus 1988/89 nicht vorgebracht worden wäre: der Umstand, dass ein und dieselbe Beziehung zwischen Strafbarkeit und Straffreiheit hin- und herwechseln kann (Beispiel: einer ist 16, der andere 18 – Beziehung ist legal; wird der Ältere 19, wird sie für ihn strafbar; wird der Jüngere 18, wird sie wieder legal). Bloß: Auch dieser Aspekt wurde in der Beschwerde aus 1988/89 auf fast einer Seite (S. 12) vorgetragen, allerdings – wie alle auf 67 Seiten ausführlich dargelegten Argumente des Beschwerdeführers – damals vom VfGH ignoriert. Der VfGH hat sich also eine windige Begründung zusammengezimmert, um seinen Spruch aus 1989 nicht als das einstufen zu müssen, was er ist: ein klares und krasses Fehlurteil.

Es ist beschämend, dass der VfGH nicht die Größe hat, seinen Fehler einzugestehen und sich bei den Opfern des § 209 zu entschuldigen, und dass die Republik Österreich diese Menschen nicht ideell und materiell entschädigt. Beschämend ist auch die Komplizenschaft der Politik und eines Teils der Lesben- und Schwulenbewegung, die – offenbar aus Opportunismus – zu dieser peinlichen Schwindelnummer schweigen. Dabei wäre es aus demokratiepolitischen und justizhygienischen Gründen so wichtig, sich mit solchen Fehlern auseinanderzusetzen und ihre Ursachen und Hintergründe (in diesem Fall schlicht und ergreifend: Homophobie) zu beleuchten.

Außerdem hätte das auch generalpräventiven Charakter in Hinblick auf zukünftige Entscheidungen in Fragen der Menschenrechte von Lesben und Schwulen.

Der VfGH ist ja nicht das einzige Höchstgericht, das Lesben und Schwulen Menschenrechte verwehrt. Ich erinnere nur an die Entscheidung des OGH in Sachen Eintrittsrecht im Mietrecht (derzeit in Straßburg beim EGMR anhängig) oder des Verwaltungsgerichtshofs in Sachen Mitversicherung in der gesetzlichen Sozialversicherung. In beiden Fällen wurden mit hanebüchenen Argumenten, für die sich jedes Bezirksgericht genieren würde, gleichgeschlechtlichen Lebensgefährten Rechte, wie sie verschiedengeschlechtliche genießen, vorenthalten.

Den VfGH jetzt „ungeschoren“ davonkommen zu lassen ist daher höchst kontraproduktiv. Stattdessen müssten Lesben und Schwule und alle Menschenrechtsverteidiger den Höchstgerichten endlich klar machen, dass sie Lesben und Schwule nicht mehr so behandeln können wie vor 100, 50 oder zehn Jahren!

Dasselbe gilt für jene PolitikerInnen, die die Verantwortung für derartige Menschenrechtsverletzungen tragen und denen kein einziges Wort des Bedauerns oder der Entschuldigung über die Lippen gekommen ist. Wahrscheinlich haben sie nicht einmal ein schlechtes Gewissen, dass ihretwegen hunderte Menschen menschenrechtswidrig im Gefängnis gesessen sind. Hier wäre eine Art – zumindest moralisches – „Den Haag“ für Politiker und auch Höchstrichter, die wider besseres Wissen am Fortbestand von Menschenrechtsverletzungen mitwirken, wünschenswert – eine Art kollektives Gewissen, das diese Leute zur Rechenschaft zieht, wenn ihr eigenes versagt.

Eine ehrliche Aufarbeitung der Schuld könnte auch direkt und indirekt Betroffene dieses Unrechts dabei unterstützen, sich mit den Institutionen und ihren Vertretern, für die sie – so wie ich – nur mehr pure Verachtung empfinden können, wieder auszusöhnen…