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Eine Grabstelle für Karl Maria Kertbeny

Veröffentlicht am 15. Januar 2002
Karl Maria Kertbeny gilt als der Schöpfer des Wortes „homosexuell“. 2001 fand die Soziologin Judit Takács die ursprüngliche, aber mittlerweile aufgelassene Grabstelle Kertbenys auf dem Kerepesi temető in Budapest, wie ich in den LN 1/2002 berichtete. Gemeinsam mit AktivistInnen initiierte sie eine Spendenaktion, um eine neue Grabstelle zu finanzieren. Das Grabdenkmal für Károly Kertbeny wurde schließlich am 29. Juni 2002 feierlich enthüllt (LN 3/2002).

Karl Maria Kertbeny (1824–1882)

Die 2002 neu errichtete Grabstelle für Karl Maria Kertbeny auf dem Kerepescher Friedhof in Budapest.

Manfred Herzer (Hg.): „Karl Maria Kertbeny. Schriften zur Homosexualitätsforschung“. Verlag rosa Winkel, Berlin 2000

Karl Maria Kertbeny gilt als der Schöpfer des Wortes „homosexuell“. Im Vorjahr recherchierte die ungarische Soziologin JUDIT TAKÁCS auf Budapests Friedhöfen, ob noch eine Grabstelle Kertbenys vorhanden ist. Auf dem zentral im 8. Bezirk gelegenen Kerepesi temető wurde sie schließlich fündig. Grab gab es zwar keines mehr, aber die Stelle, wo der 1882 verstorbene Übersetzer und Pionier der Homosexuellenbewegung begraben wurde, konnte eruiert werden. Gemeinsam mit Aktivisten von der Schwulen- und Lesbengruppe Lambda Budapest konnte Takács die Friedhofsverwaltung dazu überreden, die Grabstelle zu erhalten und neu errichten zu dürfen. Noch im Herbst wurde provisorisch ein Holzkreuz mit einem schlichten Namensschild aufgestellt.

Nun möchte Lambda Budapest einen richtigen Grabstein aus Granit auf der Grabstelle errichten. Die Kosten dafür belaufen sich auf geschätzte 500.000 Forint (ca. € 2.000), die der Verein allerdings nicht selber und auch nicht allein durch Spenden in Ungarn aufbringen wird können. Lambda Budapest hat daher eine internationale Fundraising-Kampagne gestartet und ruft um Spenden für das Denkmal auf.

Es ist geplant, das Denkmal noch im Februar 2002 zu errichten, falls ausreichend Spenden einlangen. Der Zeitpunkt bietet sich an, jährt sich doch am 23. Jänner Kertbenys Todestag zum 120. Mal, und sein Geburtstag ist der 28. Februar. Dieses Projekt ist auf jeden Fall unterstützenswert, denn es muß heute auch unsere Aufgabe sein, die Vorkämpfer für die Befreiung von Schwulen und Lesben zu würdigen und zu ehren, wie dies auch mit dem anderen großen Pionier des 19. Jahrhunderts, Karl Heinrich Ulrichs, geschieht (vgl. LN 4/2000, S. 59 ff). Und es wäre schön, wenn sich viele ÖsterreicherInnen an der Spendenaktion beteiligten, denn Kertbeny „gehört“ auch uns ein wenig:

 

In Wien geboren

Kertbeny wurde als Karl Maria Benkert 1824 in Wien geboren. Sein Großvater stammte aus Bamberg, seine Großmutter war Ungarin, sein Vater war in Ofen (Buda) geboren. Die Familie zog bald nach Karl Marias Geburt wieder von Wien nach Pest bzw. Ofen, die später zu Budapest zusammengelegt wurden und wo Kertbeny fast die Hälfte seines Lebens verbrachte. Später magyarisierte er auch seinen Namen, indem er dessen beide Silben zum Anagramm Kertbeny vertauschte, wobei das „Y“ als ein im Ungarischen oft gebräuchliches Anhängsel hinzugefügt wurde. Dieses Anhängsel (oft auch als „I“) verweist üblicherweise auf die Herkunft (z. B. Bécs = Wien, bésci = Wiener) und kommt insbesondere bei Adelsnamen vor, wirkt sonst jedoch eher versnobbt. Wahrscheinlich war mit ein Grund für dieses Anhängsel der Umstand, daß kertben im Ungarischen „im Garten“ bedeutet. Auch seine Vornamen finden sich ungarisiert als Károly Mária, aber in den wissenschaftlichen Werken über ihn hat sich letztlich die sprachlich hybride Form „Karl Maria Kertbeny“ durchgesetzt (wobei in manchen schriftlichen Quellen auch die Formen Károli, Carl bzw. Kertbény und Kertbenyi zu lesen sind).

Was aber insofern passend ist, als auch Kertbeny mit seiner Wortschöpfung „homosexual“ einen sprachlichen Hybriden – aus einem griechischen (homo = gleich) und einem lateinischen (sexual) Bestandteil – schuf. Belegt ist, daß er den Ausdruck erstmals 1868 in einem Entwurf eines Briefes an Karl Heinrich Ulrichs verwendete. In gedruckter Form fand sich der Ausdruck, der später Eingang in alle Weltsprachen finden sollte, erstmals in zwei 1869 von Kertbeny in Leipzig anonym veröffentlichten Kampfschriften gegen das Verbot der Homosexualität: In § 143 des Preussischen Strafgesetzbuches vom 14. April 1851 und seine Aufrechterhaltung als § 152 im Entwurfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, einer „offenen fachwissenschaftlichen Zuschrift“ an den preußischen Staats- und Justizminister Dr. Leonhardt, und Das Gemeinschädliche des § 143 des preussischen Strafgesetzbuches vom 14. April 1851 und daher seine nothwendige Tilgung als § 152 im Entwurfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, einer Stellungnahme im Rahmen des Begutachtungsverfahrens in Folge öffentlicher Aufforderung durch die Commission zur Berathung über jenen Strafgesetzentwurf, argumentiert und plädiert Kertbeny für die Straffreiheit der Homosexualität.

Eine Sexualtheorie hat Kertbeny im Gegensatz zu Ulrichs allerdings nur in Fragmenten veröffentlicht und wohl auch nur unvollständig entwickelt. Zur Veröffentlichung der seit 1866 immer wieder angekündigten Sexualitätsstudien kam es nie, berichtet Manfred Herzer in dem von ihm herausgegebenen, unbedingt empfehlenswerten Standardwerk über Kertbeny. Herzer schildert darin Leben und Werk Kertbenys, es finden sich zahlreiche Hinweise auf Primärquellen und Sekundärliteratur, und u. a. sind darin auch die beiden genannten Schriften Kertbenys nachgedruckt. Für an Schwulengeschichte Interessierte ist das Buch eine wahre Fundgrube und höchst spannende Lektüre, die authentisch Aufschluß über das Denken und Argumentieren im 19. Jahrhundert gibt.

 

In der LN-Ausgabe 3/2002, S. 37, berichte ich über den Vollzug des Projekts:

Am 29. Juni 2002 ist das von ungarischen AktivistInnen initiierte und durch zahlreiche SpenderInnen finanzierte Grabdenkmal für Károly Kertbeny, den ungarischen Vorkämpfer für die Rechte von Homosexuellen, auf einem Budapester Friedhof feierlich enthüllt worden. Die Grabstelle Kertbenys war erst im Vorjahr von der Soziologin Judit Takács auf dem Kerepesi temető der ungarischen Hauptstadt entdeckt worden. Takács’ Engagement ist auch die Neuerrichtung der Grabstätte zu verdanken.

 

Nachträgliche Anmerkungen:

Ein Besuch des Kerepescher Friedhofs ist übrigens sehr empfehlenswert und sollte bei einem Budapest-Besuch auf dem Besichtigungsprogramm stehen – nicht nur wegen der Grabstelle Kertbenys. Der Friedhof, der im 8. Bezirk ganz in der Nähe des Keleti pályaudvar, des Ostbahnhofs, liegt, gilt zu Recht als Budapests schönster Friedhof. Es handelt sich eigentlich um eine riesige gepflegte Parkanlage mit monumentalen Mausoleen und vielen beeindruckenden Grabdenkmälern. Hier sind alle vertreten, die in Ungarn Rang und Namen hatten: u. a. berühmte KünstlerInnen, Nationalhelden und bedeutende PolitikerInnen.

Später hat mich Judit Takács übrigens daran erinnert, dass ich sie auf die Idee gebracht habe, nach Kertbenys Grab zu suchen. Wir hatten wohl über die „Urahnen“ und „Vorkämpfer“ der Bewegung gesprochen, und bei der Gelegenheit hatte ich gemeint, dass es vielleicht noch eine Grabstelle von Kertbeny in Budapest geben könne, da er ja dort verstorben ist. Ich hatte die Sache dann aber wieder vergessen. Siehe auch Interview mit Judit in der Sonderausgabe zur LSBT-Geschichte des Magazins humen aus 2018 (hier: S. 13 ff). 2022 veröffentlichte Judit einen ausführlichen Beitrag dazu in einem Sammelband: “How to Conserve Kertbeny’s Grave? A Case of Post-Communist Queer Necrophilia“, 62–75 in: Katalin Miklóssy & Markku Kangaspuro (eds.) “Conservatism and Memory Politics in Russia and Eastern Europe“. Abingdon: Routledge.