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§ 209: Das Dilemma der Verfassungsrichter

Veröffentlicht am 6. Dezember 2001
4. Dezember 2001: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg erklärt mehrere Anfechtungen des sogenannten Homosexuellen-Paragraphen für zulässig; das österreichische Verfassungsgericht lehnt am selben Tag eine diesbezügliche Entscheidung aus formalen Gründen ab. Was lernen wir daraus? Diese Frage beantwortete ich in einem Kommentar im Standard.

Der Verfassungsgerichtshof hat sich also mit einem formalen Trick vor einer Entscheidung in Sachen § 209 gedrückt. Das war zu erwarten, denn er befindet sich in einem veritablen Dilemma:

Bestätigt er – wider besseres Wissen – sein Urteil aus 1989, in dem er das laut § 209 Strafgesetzbuch unterschiedliche Schutzalter für homosexuelle und heterosexuelle Jugendliche für verfassungskonform erklärt, macht er sich nicht nur lächerlich, sondern setzt sich auch der peinlichen Gefahr aus, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in ein paar Monaten korrigiert zu werden.

Stößt er sein damaliges Erkenntnis um, desavouiert er sich und vor allem jene fünf Richter, die 1989 an der Entscheidung mitwirkten und dem VfGH heute noch angehören. Dies käme dem Eingeständnis gleich, ein Fehlurteil gefällt zu haben. Zumindest besagte fünf Richter wären dann wohl rücktrittsreif.

Bei dem Verfahren 1989 handelte es sich um eine Individualbeschwerde, die ein Betroffener im Auftrag und mit Unterstützung der Homosexuellen Initiative (HOSI) Wien eingebracht hatte.

Symptomatisch für die Seriosität des damaligen Verfahrens: Obwohl ihr Anwalt einen 67-seitigen Schriftsatz mit ausführlichen Argumenten, Studien und Gutachten vorlegte, die zur Aufhebung ähnlicher Bestimmungen im Ausland geführt hatten, wurden seine Ausführungen von den Verfassungsrichtern in ihrem Urteil in genau drei Sätzen zusammengefasst…

Der VfGH kann sich jetzt schwerlich damit aus der Affäre ziehen, dass er auf der Vorlage vollkommen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse besteht, denn in den letzten zwölf Jahren hat keine Revolution in den Sexualwissenschaften stattgefunden. Der VfGH hätte bloß die damals vorgelegten Argumente sachlich würdigen müssen.

 

Ein letztes Symbol…

Schon 1989 lag ihm genug Material vor, das jene Behauptungen und Vorurteile widerlegte, auf die sich der Gesetzgeber 1971 bei der Einführung des § 209 stützte. Und eigentlich war bereits 1971 bekannt, dass die Prägungs- bzw. Verführungstheorie blanker Unsinn ist.

Was es seither gegeben hat, sind weitere Studien und Untersuchungen, die diese Erkenntnisse untermauern, und die Entwicklung, dass auch die letzten Länder in Europa ihre unterschiedlichen Mindestaltersgrenzen aufgehoben haben und seit 1997 die Europäische Menschenrechtskommission in Straßburg in einer britischen Beschwerde die Konventionswidrigkeit unterschiedlicher Mindestaltersgrenzen grundsätzlich festgestellt hat.

Kein Experte, der einen Ruf zu verlieren hat, würde die hanebüchenen, 1971 und 1989 ins Treffen geführten „Expertenmeinungen und Erfahrungstatsachen“ aus der Zeit vor 1971 heute noch vertreten. Es ist ja in der Tat sachlich nicht zu begründen, warum 14- bis 17-jährige Burschen nur vor einvernehmlichen Sexualkontakten mit über 19-Jährigen Männern, nicht aber vor solchen mit gleichaltrigen Burschen oder mit älteren Frauen zu schützen sind. Oder warum ein und derselbe – bereits strafmündige – 15-Jährige etwa für eine von ihm begangene Vergewaltigung – zu Recht – vor Gericht kommt, aber dann, wenn er sich aus eigenem Willen mit einem 20-Jährigen einlässt, plötzlich zum armen, schützenswerten Opfer wird, das seinen älteren Partner bis zu fünf Jahre ins Gefängnis bringen kann.

 

…der Ächtung

Hier wird klar, dass § 209 bloß letztes Symbol für die Ächtung der Homosexualität an sich ist. Ein Gutteil der Ausführungen in der Regierungsvorlage 1970, auf die sich der VfGH 1989 ausschließlich stützte, stammte übrigens aus der Feder Roland Graßbergers, der Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Wien war. Auf ihn, der Homosexualität als „Entartungserscheinung“ bezeichnete, deren „unerbittliche“ Bekämpfung er forderte, beriefen sich schon jene Nazis, die während des Dritten Reiches auch in Deutschland für die Einführung der Strafbarkeit der weiblichen Homosexualität – allerdings vergeblich – plädierten. Kein Grund offenbar im Nachkriegsösterreich, auf Graßbergers Gutachten zu verzichten.

Der VfGH setzt offenbar auf Zeitgewinn und hofft wohl, dass ihm Straßburg die Entscheidung abnimmt. Vielleicht meint er ja, die Schmach einer Aufhebung des Urteils aus 1989 wäre geringer als die Aufhebung eines Urteils aus 2001.

Am ehrlichsten wäre es, der VfGH würde das Fehlurteil aus 1989 einbekennen und sich dafür bei den rund 250 Personen, die seither wegen § 209 ins Gefängnis geworfen wurden, entschuldigen. Mit seiner juristischen Spitzfindigkeit verlängert er dieses Unrecht bloß und lädt jeden Tag noch mehr Schuld auf sich.

 

Link zum Original-Beitrag: https://www.derstandard.at/story/800028/-209-das-dilemma-der-verfassungsrichter