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Homosexualität in Österreich

Homosexualität und AIDS(-Politik)

Für das Buch „Homosexualität in Österreich“ – herausgegeben von Michael Handl, Gudrun Hauer, Kurt Krickler, Friedrich Nussbaumer und Dieter Schmutzer aus Anlass des 10-jährigen Bestehens der HOSI Wien – verfasste ich u. a. einen Beitrag über die Anfänge der AIDS-Arbeit in Österreich.  

AIDS kommt nach Österreich

Die österreichische Öffentlichkeit erreichte AIDS genau am 11. März 1983 – an diesem Tag berichtete das „Abendjournal“ des Hörfunks über die beiden ersten AIDS-Fälle in Österreich. Zwar gab es zuvor einige wenige Presseberichte über eine neue rätselhafte Krankheit, von der in den USA hauptsächlich schwule Männer befallen wurden, zwar kursierten in der Wiener Subkultur schon einige Wochen vorher Gerüchte über diese beiden ersten österreichischen AIDS-Fälle, aber die breite Öffentlichkeit wurde erstmals in diesen Märztagen 1983 mit AIDS konfrontiert. Es folgte die erste große Berichterstattungswelle, die sich vor allem durch Sensationalismus und Desinformation auszeichnete.

Die Homosexuellen in Österreich wurden natürlich aufgeschreckt – und äußerst verunsichert, wobei ihre Reaktion zwei Extreme zeigte: Panik und Ignoranz. Letztere Reaktion drängte sich geradezu auf: Der sensationsgeile Medienrummel um zwei AIDS-Fälle mußte ja völlig unverhältnismäßig erscheinen.

Die Homosexuelle Initiative (HOSI) Wien entschloß sich, auf jeden Fall gegenzusteuern und ein Faltblatt mit den wichtigsten damals verfügbaren Informationen zu verfassen. Sie konnte die Wiener Professoren Dr. Kunz und Dr. Wolff zur Mitarbeit an dieser Aufklärungsschrift gewinnen. Vierzehn Tage nach der ersten Rundfunkmeldung war die Broschüre gedruckt und konnte verteilt werden. Sie war die erste Informationsbroschüre über AIDS in Europa.

Die Broschüre war sehr vorsichtig formuliert, immerhin war damals noch nicht bewiesen, daß AIDS von einem Virus hervorgerufen wird, obwohl diese Hypothese bereits favorisiert wurde. Die Broschüre ist voller Relativierungen, dafür ist sie auch heute noch unangreifbar. Aufgrund der fehlenden gesicherten Erkenntnisse beschränkten sich die gegebenen Empfehlungen und Ratschläge, die vom Public Health Service der USA übernommen wurden, darauf, vor Kontakten mit „Personen zu warnen, die an AIDS erkrankt oder krankheitsverdächtig sind“. Es fehlte auch nicht der Hinweis, daß in den Risikogruppen mit der Anzahl der Sexualpartner das Ansteckungsrisiko steigen könne. Angehörigen der Risikogruppen wurde damals schon angeraten, kein Blut oder Plasma zu spenden.

Auch der erste Artikel über AIDS in der Zeitschrift der HOSI Wien, den LAMBDA-Nachrichten (Nr. 2–3/1983 vom Juni 1983), enthielt viele Relativierungen. Man kann zwar nicht behaupten, daß das Problem verdrängt oder bagatellisiert worden wäre (denn es war zu diesem Zeitpunkt nun einmal nur ein winziges Problem), aber die Vereinszeitung unterließ es auch, klare Ratschläge und Empfehlungen zu geben oder eine Grundsatzdebatte über adäquate Reaktionsweisen der Schwulen auf AIDS zu initiieren. Das hatte mehrere Gründe.

Zum einen gab es so wenig gesichertes Wissen, daß man kaum guten Gewissens Ratschläge und Empfehlungen erteilen konnte. Sicherlich spielten dabei Vorsicht und die Angst, etwas Falsches zu raten, eine Rolle. Die Zeitung der Schwulen- und Lesbenbewegung wollte sich nicht der Gefahr aussetzen, eine Mahnung zu sexueller Zurückhaltung abzugeben – von vielen wäre sie als reaktionär und selbstunterdrückend empfunden worden –, die sich womöglich später als völlig unbegründet erwiesen hätte. Vom Schlagwort „Safer Sex“ und von der Schutzmaßnahme Kondom war 1983 noch überhaupt keine Rede.

Zum anderen haben sich die LN, obwohl sie eindeutig ein Meinungsblatt sind und hinsichtlich der Notwendigkeit individueller Emanzipation als Schwuler und als Lesbe stets eindeutig Stellung bezogen haben, niemals als Zentralorgan verstanden, das allgemein gültige Doktrinen und Direktiven für Homosexuelle ausgibt, noch ihren Einfluß auf die Schwulen und Lesben überschätzt. Für eine Grundsatzdebatte über die Auswirkungen, die HIV/AIDS für die Schwulen und ihre Bewegung noch haben könnte, war es 1983 und 1984 auf alle Fälle zu früh. Niemand war sich damals darüber im klaren, daß HIV/AIDS eine noch einschneidendere kollektive Erfahrung für die Schwulen werden würde als der „Homocaust“ im Dritten Reich.

 

Drôle de guerre

Die zwei Jahre, die auf diese turbulenten Märztage des Jahres 1983 folgten, könnte man am besten als „drôle de guerre“, als komischen Krieg bezeichnen, wie die Franzosen die Zeit unmittelbar nach der Kriegserklärung 1939 nannten: AIDS, der Feind, war zwar im Land, aber es passierte nichts, es kam zu keinen Kampfhandlungen. Die Zahl der AIDS-Fälle nahm nur sehr langsam zu. Ende Juni 1983 waren sechs Fälle gemeldet, Ende Dezember 1983 sieben. Ende des darauffolgenden Juni neun, Ende 1984 dreizehn und Ende Juni 1985 sechzehn. Dies ist übrigens ein Indiz dafür, daß bei den ersten in Österreich aufgetretenen Fällen das Virus sozusagen direkt aus den Vereinigten Staaten „importiert“ wurde. Es handelte sich dabei um die erste Vorhut der Krankheit. Jene Personen, die in den späteren Jahren erkrankten, hatten sich bereits vorwiegend in Westeuropa oder bei infizierten Einheimischen angesteckt. Aus dieser „Drôle de guerre“-Phase läßt sich auch der Schluß ziehen, daß sich AIDS in Österreich mit rund drei- bis vierjähriger Verzögerung gegenüber den USA ausbreitet. Österreich hatte also einen Vorsprung von drei bis vier Jahren, der vor allem in Hinblick auf die Präventionsarbeit von unschätzbarem Wert war. Leider wurde dieser Vorsprung nicht optimal genutzt. Daß wir in Österreich doch vergleichsweise gut gegenüber den USA dastehen, erklärt sich aus dem Umstand, daß in den USA bis 1988 eine verheerende Untätigkeit auf dem Gebiet der AIDS-Prävention herrschte.

Die Medien zeigten in diesen zwei Jahren der „drôle de guerre“ ebenfalls kein besonders großes Interesse an AIDS, obwohl natürlich sporadisch immer wieder Artikel darüber erschienen. Auch die Berichterstattungswelle im Spiegel zur Jahreswende 1984/85 blieb ohne größeres Echo in Österreich. Die LAMBDA-Nachrichten griffen vom Juni 1983 bis Dezember 1984 – fünf Ausgaben lang – das Thema AIDS kein einziges Mals auf, sieht man von einem Bericht über „AIDS in Osteuropa“ in den LN 1/1984 ab. Erst in der Ausgabe 1/1985 vom Jänner 1985 erschien wieder ein längerer Beitrag über AIDS, der alle neuen Fakten und Thesen sowie Informationen über den eben entwickelten HIV-Antikörpertest enthielt. Auch zu diesem Zeitpunkt konnten und wollten die LAMBDA-Nachrichten jedoch keine eindeutigen Empfehlungen abgeben. So hieß es in diesem Beitrag abschließend: „Angesichts der spärlichen gesicherten Fakten zu AIDS können wir an dieser Stelle und zum heutigen Datum keinerlei Empfehlungen oder Ratschläge geben, wie man sich vor AIDS schützen kann – außer vielleicht den Ratschlag, sein Immunsystem möglichst zu schonen (…). Jegliche anderen Empfehlungen wären unseriös. Natürlich könnte man den Ratschlag geben, die Sexualität einzustellen (…), aber das wäre wohl eine unverhältnismäßige Empfehlung. Neun Tote, von denen nicht alle homosexuell waren, sind zwar neun tragische Schicksale, aber keine alarmierende Größe, wenn man die Zahl der Schwulen in Österreich auf 300.000 bis 400.000 schätzt. Wir sollten kühlen Kopf bewahren. AIDS ist zwar eine reale Krankheit, aber auch eine politische Angelegenheit (…).“

 

Amoklauf

Umso vehementer brach dann die zweite große Berichterstattungswelle über Österreich herein. Den ganzen Sommer 1985 über liefen die Medien geradezu Amok.

Es ist auffällig, daß sich die HOSI Wien und die LAMDBA-Nachrichten auch zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich mit den Reaktionen der Umwelt und der Medien beschäftigten und kaum eine grundsätzliche Debatte darüber führten, was AIDS für die Schwulen und die Bewegung wirklich bedeutet und noch bedeuten könnte. Die Kritik an der Form, wie sich die Massenmedien und die Öffentlichkeit mit AIDS auseinandersetzten, und das Aufzeigen der Behördenskandale in Zusammenhang mit AIDS, die die LN in einer losen Artikelreihe mit „AIDS-Affären in Österreich“ betitelten, waren natürlich wichtig, doch muß man sich heute fragen, ob es nicht noch wichtiger gewesen wäre, „Brauchbareres“ zu berichten, mit dem die Schwulen etwas anfangen und das sie konkret in ihrer Lebenssituation umsetzen hätten können. Zusätzlich birgt die Fokussierung auf die Kritik am skandalösen Umgang der anderen (Medien, Gesellschaft, Behörden) die Gefahr, daß dies zu einer Abwehr- und Trotzreaktion führt oder als willkommener Vorwand mißbraucht wird, keine Schutzmaßnahmen zu ergreifen.

Nach Gründung der AIDS-Hilfe verstärkte sich die Tendenz, die Bewältigung des Problems AIDS den „Profis“ in der AIDS-Hilfe zu überlassen bzw. diese für allein zuständig zu erklären und sich in der Bewegung und ihrer Zeitung noch stärker auf Gesellschaftskritik zu beschränken.

Im nachhinein – da man immer leichter reden hat – gewinnt man den Eindruck, daß die LAMBDA-Nachrichten wichtige Bereiche der AIDS-Problematik nicht beleuchtet oder sogar ausgeblendet haben. Die Bewegung und ihr Medium haben also weniger agiert als reagiert. Dies war – wie erwähnt – einerseits auf den Mangel an wirklich gesichertem Wissen und die daraus resultierende Ratlosigkeit und Vorsicht zurückzuführen. Darüber hinaus wurde die europäische Bewegung von der nordamerikanischen im Stich gelassen. Obwohl dort die AIDS-Krise schon früher eingetreten war und man auf einen längeren Beobachtungs- und Erfahrungszeitraum zurückblicken konnte, wurde AIDS vorwiegend als ideologisches Problem diskutiert. Dadurch mußte die europäische Schwulenbewegung zwangsläufig die Fehler der nordamerikanischen wiederholen. Zu Recht sahen viele Schwulenaktivisten beiderseits des großen Teichs in der durch AIDS ausgelösten (Moral-)Debatte einen Anschlag auf die ohnehin bescheidenen, aber mühsam in den siebziger Jahren erkämpften Freiheiten. Dennoch war mit sexualpolitischer Rhetorik aus den siebziger Jahren der neuen Bedrohung nicht beizukommen. Auch wenn die Gesellschaft versuchte, AIDS zu benützen, um der Homosexuellenemanzipation einen schweren Schlag zu versetzen, waren Verleugnung, Verdrängung und Bagatellisierung des Problems keine geeignete Antwort der Bewegung. Schwulenaktivisten konnten also leicht zwischen die Fronten geraten.

Die Reaktion der Schwulenbewegung auf AIDS war natürlich durch die Entwicklung in den siebziger Jahren bedingt. Eine genaue Analyse dieser Entwicklung ist hier nicht möglich, aber ein wichtiger Faktor soll nicht unerwähnt bleiben: Die „Befreiung“ in den siebziger Jahren führte zu einer Kommerzialisierung der schwulen Sexualität; freie Sexualität war – zumindest in den Zentren schwulen Subkultur – synonym für Emanzipation. Da Schwule sich und ihren Grad an Befreitheit in erster Linie über den Sex definiert hatten, mußte die Bedrohung dieses vermeintlich wichtigsten Aspekts homosexuellen Daseins durch AIDS zwangsläufig zu einem Vakuum und einer Perspektivlosigkeit führen. Um dies zu verhindern, mußte aus Ermangelung von Alternativen an der „freien Sexualität“ krampfhaft – und mit allen rationalen und irrationalen Argumenten und Mitteln – festgehalten werden. Dies konnte natürlich nur so lange gut gehen, als das Problem eine gewisse Größe nicht erreicht hatte.

Rückblickend läßt sich dennoch feststellen, daß die HOSI Wien in AIDS-Fragen im Vergleich zu ausländischen Schwulengruppen eine undogmatische und pragmatische Linie eingeschlagen hat. Dies zeigt sich vor allem in der Frage des Umgangs mit dem HIV-Antikörpertest.

 

Die erste HIV-Durchseuchungsstudie unter Homosexuellen

Gegen Endes des Jahres 1984 stand der eben entwickelte HIV-Antikörpertest zur Erprobung bereit. Da nun einmal Homosexuelle die am stärksten von AIDS betroffene Gruppe darstellten, war es naheliegend, daß man den Test bei Probanden aus dieser Gruppe ausprobieren wollte, denn in anderen Gruppen – abgesehen von den Fixern – war die Chance, infizierte Personen zu finden, ja gleich null. Eine HIV-Antikörper-Prävalenzstudie mußte also unter Homosexuellen durchgeführt werden.

Natürlich gab es für die HOSI Wien eine Reihe von Fragen abzuwägen, denn es bestand große Skepsis gegenüber dem Antikörpertest und seiner Aussagekraft. Der Nachweis von Antikörpern ist ja nicht gleichbedeutend mit einer AIDS-Erkrankung, kann aber für den einzelnen schwere psychische Belastungen mit sich bringen. Die Sinnhaftigkeit des Tests war – und ist zum Teil auch heute – heftig umstritten. Immerhin war und ist zu befürchten, daß positive Schwule nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch von den Schwulen ausgegrenzt werden – HIV-Apartheid unter Schwulen.

Schließlich waren folgende Überlegungen für die Zustimmung der HOSI Wien zu dieser Studie ausschlaggebend:

Wenn der Test einmal auf dem Markt ist, wird er auch Verwendung finden, entsprechende Blutuntersuchungen würden ohne Wissen der Betroffenen gemacht werden. Personen mit Risikoverhalten würden aufgrund der Hysterie und Panik freiwillig den Test vornehmen lassen – und wären im Fall eines positiven Befunds ohne jede weitere Betreuung und Unterstützung. Die HOSI Wien knüpfte ihre Teilnahme daher an folgende Bedingungen: Die Probanden mußten vollkommen anonym bleiben (wer sein Ergebnis nicht wissen wollte, brauchte es sich einfach nicht abzuholen), ihr Blut durfte ausschließlich von Vertrauensärzten abgenommen und nur mit einer Codenummer ins Labor geschickt werden, jeder Testvornahme mußte ein Informationsgespräch vorausgehen und jede Befundrückgabe in ein Beratungsgespräch eingebunden werden.

Außerdem erschien eine reine Durchseuchungsstudie wenig sinnvoll, denn natürlich war es unmöglich, ein repräsentatives Sample von Homosexuellen für eine derartige Studie zu finden. Auf Wunsch der HOSI Wien wurde daher eine Fragebogenerhebung an die Studie geknüpft, die Aufschlüsse über Risikoverhalten und Ko-Faktoren geben sollte.

In den Monaten Jänner bis März 1985 beteiligten sich schließlich 318 homosexuelle Männer an der von Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Horak geleiteten Studie „HTLV-III-Antikörper bei Risikogruppen in Österreich“, in deren Rahmen noch 309 Patienten der Ambulanz der 2. Universitätsklinik für Gastroenterologie und Hepatologie sowie 265 Dialysepatienten untersucht wurden. Diese Studie war eine der ersten größeren Untersuchungen dieser Art in Europa. Die wichtigsten Ergebnisse waren folgende: Bei 68 der 318 getesteten homosexuellen Männer wurde das Vorhandensein von HIV-Antikörpern festgestellt (21,4 Prozent). Die Fragenbogenauswertung ergab als Hauptübertragungsweg den Analverkehr, wobei der rezeptive (passive) Partner weitaus gefährdeter ist als der aktive. Es zeigten sich außerdem hochsignifikante Korrelationen zwischen positivem Antikörperbefund und der Anzahl der Sexualpartner sowie Sexualkontakten in westeuropäischen Großstädten, wie Amsterdam, Berlin und Paris, woraus sich wiederum ableiten läßt, daß AIDS auch mit zeitlicher Verzögerung zu Westeuropa nach Österreich gelangt ist.

Nach Beendigung der Studie stellten sich mehrere Probleme ein. Einerseits bestand keine anonyme Testmöglichkeit mehr, das Bedürfnis nach einer solchen war jedoch weiterhin vorhanden. Außerdem galt es, die HIV-Positiven, die sich ihren Befund abholten, weiterzubetreuen, ebenso diejenigen, die in nächster Zeit durch andere Untersuchungen ein positives Testresultat erhalten würden. Nicht zuletzt mußte die Aufklärungs- und Informationsarbeit in der am stärksten betroffenen Gruppe fortgesetzt werden.

 

Die Gründung der Österreichischen AIDS-Hilfe (ÖAH)

Durch die Arbeit an der 1983 herausgegebenen Broschüre und die Mitwirkung an der Horak-Studie waren bereits gute Kontakte zwischen Mitarbeitern der HOSI Wien, befaßten Ärzten, Kliniken und Professoren und – für die Entstehung der AIDS-Hilfe besonders wichtig – Dr. Judith Hutterer entstanden, die an der 1. Universitäts-Hautklinik und später an der Dermatologischen Abteilung des Krankenhauses Wien-Lainz die ersten AIDS-Patienten bzw. HIV-Positiven betreute und behandelte.

Dr. Hutterer und HOSI-Wien-Obmann Dr. Reinhardt Brandstätter nahmen Kontakt mit dem Gesundheitsministerium auf, um das Projekt der Errichtung und Finanzierung von Informations-, Beratungs- und Betreuungseinrichtungen – der späteren AIDS-Hilfe – vorzustellen. Dr. Hutterer und Dr. Brandstätter wurde vom Gesundheitsministerium im Mai 1985 zur „2nd European Gay Health Conference“ nach London geschickt, wo sie nicht nur die Ergebnisse der Horak-Studie präsentierten, sondern vor allem Gelegenheit hatten, sich über bestehende Einrichtungen im Ausland und deren Erfahrungen zu informieren.

Danach wurde ein Konzept und die Statuten des Vereins Österreichische AIDS-Hilfe ausgearbeitet. Das Gesundheitsministerium sagte seine Unterstützung zu, die in der Tat unbürokratisch und weitreichend war. Dr. Helga Halbich und Dr. Ingried Erlacher von befaßten Abteilungen des Ministeriums waren bereit, gemeinsam mit HOSI-Vertretern und Dr. Hutterer die Vereinsgründung vorzunehmen und Vorstandsfunktionen im Verein, der sich schließlich im August 1985 konstituierte, zu übernehmen.

Von Anfang an war klar, daß die AIDS-Hilfe einerseits keine Homosexuellenvereinigung werden sollte, daß ihre Mitarbeiter andererseits jedoch unbedingt das Vertrauen jener besitzen mußten, die am stärksten von HIV/AIDS betroffen waren und sind.1 Im übrigen waren am Aufbau der ÖAH-Beratungsstellen in den Bundesländern auch die lokalen Homosexuellen Initiativen maßgeblich beteiligt.

Mit der Errichtung und dem Aufbau der Österreichischen AIDS-Hilfe und ihrer Einrichtungen haben engagierte Schwule in Österreich eine wichtige Infrastruktur zur AIDS-Prävention geschaffen, die längst in weitaus größerem Maße der Allgemeinbevölkerung und einem gesamtgesellschaftlichen AIDS-Management zugute kommt als der Gruppe der Homosexuellen und ihrer spezifischen Präventionsproblematik, obwohl selbstverständlich auch die Schwulen von dieser Infrastruktur und der nicht unwesentlich von der ÖAH mitgestalteten und mitgeprägten AIDS-Politik in Österreich profitieren.

 

Vier Jahre Österreichische AIDS-Hilfe

Die Österreichische AIDS-Hilfe ist heute eine anerkannte Einrichtung der Gesundheitsvorsorge. Es wäre nicht Österreich, hätte nicht auch die AIDS-Hilfe mit allerlei Schwierigkeiten zu kämpfen. Etlichen Leuten war die Tatsache, daß in der ÖAH offen Homosexuelle – und noch dazu aus der Schwulenbewegung – wichtige Funktionen einnehmen, stets ein Dorn im Auge. Dies wurde oft ins Treffen geführt, um die ÖAH zu diskreditieren. Angesichts der erfolgreichen und professionellen Arbeit der ÖAH fruchtete diese Hetze nichts.

Natürlich mußten sich die Politiker und die Fachleute aus Medizin, Wissenschaft und Forschung erst an den Umgang mit offen Schwulen gewöhnen. Ihnen war klar, daß sie bei ehrlichen und wirksamen Präventionsanstrengungen nicht auf das Know-how, das Insiderwissen und die Betroffenenkompetenz der engagierten Schwulen und deren Zugang zu der am stärksten betroffenen Gruppe verzichten konnten. Sicherlich waren auch viele befaßte ExpertInnen froh, daß sie sich nicht selbst allzusehr mit den Homosexuellen auseinandersetzen mußten, andererseits verloren sie dadurch natürlich an Macht, Kontrolle und Einfluß. Ein anderer Grund, warum die Anfeindungen erfolglos blieben, war einfach der, daß sie nicht zutrafen. Die AIDS-Hilfe war nie so „durchschwult“, wie ihre Gegner immer behaupten.

Für die Schwulen hat das Engagement in der AIDS-Hilfe ebenfalls Vor- und Nachteile, für sie bedeutet es eine ideologische Gratwanderung. Denn einerseits sichert dieses Engagement die Möglichkeit, die nationale AIDS-Politik entscheidend mitzugestalten, andererseits führt es dazu, die Gleichung Homosexualität = AIDS auch in der schwulen Öffentlichkeit zu zementieren.

Es hat sich jedoch ganz deutlich gezeigt, daß auch eine AIDS-Hilfe, in der Schwule mitarbeiten, eine homosexuelle Emanzipationsbewegung selbst in Sachen AIDS-Politik nicht ersetzen kann. Bester Beweis dafür sind die Diskriminierungen, denen Drogenabhängige ausgesetzt waren und sind; Diskriminierungen, wie sie die Schwulenbewegung für die Schwulen verhindern konnte.

So betrafen die AIDS-Skandale, die sich in den AIDS-Anfangszeiten in Österreich zutrugen, zumeist Intravenös-Drogenabhängige. Da wurden in Tirol bei Razzien festgenommene Fixer einem Zwangstest auf HIV unterzogen, da wurde einer HIV-positiven Fixerin von einem oberösterreichischen Untersuchungsrichter der Briefverkehr verunmöglicht, weil er ihre Briefe nicht kontrollieren, d. h. angreifen wollte, da speichern trotz gegenteiliger Weisung des Sozialministeriums bestimmte Landesarbeitsämter die positiven HIV-Befunde arbeitsloser FixerInnen in ihren Computern. Da wurden plötzlich Tänzerinnen und Zeitungskolporteure in Kärnten zu „Ersatzsündenböcken“, die man für die Weiterverbreitung von AIDS verantwortlich machte. In Vorarlberg wurden hingegen behördenbekannte Fixer und Schwule brieflich vom Bezirkshauptmann zur Vornahme eines HIV-Tests beim Amtsarzt „eingeladen“ .

Im großen und ganzen konnten die HOSIs derartige Diskriminierungen von den Schwulen abwenden, wobei zu sagen ist, daß die Schwulen natürlich im Gegensatz zu Fixern eine viel effizientere Strategie des „Überlebens“, des „Sich-bedeckt-Haltens“ in der ihnen feindlich gesinnten Umwelt entwickelt haben.

Was der AIDS-Hilfe noch nicht zufriedenstellend gelungen ist, ist die direkte Ansprache der Homosexuellen über die Medien der Massenkommunikation. Zwar ist es erklärtes Ziel aller mit der AIDS-Problematik befaßten Institutionen, AIDS nicht zu einer Schwulen- und Fixerkrankheit werden zu lassen, sondern zu einer, die alle angeht. Dies ist durchaus im Sinne der Homosexuellen, doch ergibt sich dabei ein großes Dilemma für sie: So gut die Absicht, AIDS zu einer Allerweltskrankheit zu banalisieren, auch gemeint ist, führt diese Bemühung doch dazu, daß Homosexualität in der AIDS-Aufklärung meist total totgeschwiegen wird. Krassestes Beispiel dafür ist die Informationskampagne im Fernsehen zum Jahreswechsel 1987/88: In keinem einzigen der zehn TV- und Kino-Spots kamen Homosexuelle vor. Denn Homosexualität ist tabu! Und die Leidtragenden dieses Tabus sind einmal mehr die Schwulen, die dadurch – obwohl von AIDS am stärksten betroffen – von den Präventionsbotschaften nicht nur ausgeschlossen werden, sondern auch in der bei ihnen mitunter vorhandenen Verdrängung des Problems ungestört bleiben.

Auch wenn es auf den ersten Blick den Anschein hat, daß in Sachen AIDS ein breiter nationaler Konsens herrscht, ist nicht alles eitel Wonne. Alle Parteien, die maßgeblichen Gesundheitspolitiker und -behörden, die AIDS-Hilfe sowie die Schwulengruppen begrüßen zwar den eingeschlagenen Weg der AIDS-Prävention und AIDS-Bekämpfung, doch hinter den Kulissen findet dennoch ein ständiger Kleinkrieg und Grabenkampf zwischen „Tauben“ und „Falken“ statt, zwischen Befürwortern einer auf Vertrauen und Eigenverantwortung basierenden AIDS-Prävention und den  „Scharfmachern“, die für härtere und sogar Zwangsmaßnahmen plädieren, z. B. bei den Routine-Zwangstests in Wiener Gemeindespitälern, bei der Interpretation des ministeriellen Erlasses zur Infektionsquellenforschung oder bei der jüngst aufgeflammten Diskussion über die Aufnahme von AIDS ins Geschlechtskrankheitengesetz.

Nach sechs Jahren AIDS-Arbeit und vier Jahren AIDS-Hilfe kann man dennoch ohne Übertreibung sagen, daß es den verantwortlichen Homosexuellen in der HOSI und in der AIDS-Hilfe gelungen ist, einen idealen Weg zwischen all diesen Gegensätzen, scheinbaren Unvereinbarkeiten, Unverträglichkeiten, von verschiedenen Seiten an sie herangetragenen Ansprüchen, Wünschen und Forderungen zu finden. Dabei handelt es sich sicherlich um eine politische Meisterleistung, die nicht nur für Österreich bisher einmalig ist, sondern auch in nur wenigen anderen Ländern so gut gelungen ist.

 

Anmerkung

1 Zu den Prinzipien, Aufgaben, Zielsetzungen, Arbeitsweisen, Angeboten und Tätigkeitsbereichen der Österreichischen AIDS-Hilfe siehe auch deren Veröffentlichungen, vor allem: ÖAH-Info aktuell, Nr. 1 (Juni 1987).