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Kommentar in der Online-Zeitschrift Glocalist Review NR. 8/2003

EU-Verfassung: Entwurf noch verbesserungsfähig

Veröffentlicht am 17. November 2003
2002/03 war der EU-Verfassungskonvent damit beschäftigt, den Entwurf für einen Vertrag über eine Verfassung für Europa auszuarbeiten. Für die Ausgabe 8/2003 der digitalen Wochenzeitschrift Glocalist Review, die sich schwerpunktmäßig mit dem Potential dieser EU-Verfassung aus Sicht von NGOs beschäftigte, verfasste ich einen Beitrag.

Aus lesbisch-schwuler Sicht ist der Entwurf für die zukünftige Verfassung der Europäischen Union teils positiv, teils negativ zu bewerten. Höchst erfreulich ist, daß sich die EU bei den Werten, auf die sie sich gründet (Artikel I-2), ausdrücklich zur „Gleichheit“ aller Menschen sowie zu „Toleranz“ und „Nichtdiskriminierung“ bekennt. Darüber hinaus sieht der Entwurf im Artikel I-3, in dem die Ziele der Union aufgezählt werden, die Bekämpfung von Diskriminierungen vor. Konkretisiert wird dieses Ziel im Teil III des Entwurfs betreffend die Politikbereiche und Arbeitsweisend der Union, wo es im neu eingefügten Artikel III-1a heißt:

Bei der Festlegung und Durchführung der Politik und der Maßnahmen in den in diesem Teil der Verfassung genannten Bereichen zielt die Union darauf ab, Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.

Im Erstentwurf war die Berücksichtigung von Gleichheit und Nichtdiskriminierung nicht in dieser Form in diesen Schlüsselartikeln über die Werte und Ziele der Union vorgesehen. Erst durch eine großangelegte Kampagne von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wurden die Formulierungen entsprechend abgeändert. Die Berücksichtigung dieser Punkte war ja nicht nur ein lesbisch-schwules Anliegen, vertreten durch ILGA-Europa, sondern auch für andere im Bereich der Nichtdiskriminierung tätigen Verbände relevant. Und so taten sich das Europäische Netzwerk gegen Rassismus (ENAR), die Europäische Frauenlobby (EWL), AGE (ein europäischer Verband, der gegen Altersdiskriminierung kämpft), das Europäische Behindertenforum (EDF) und die ILGA-Europa zusammen und begannen ihr intensives – und schließlich sehr erfolgreiches – Lobbying bei den Konventsmitgliedern. Alle fünf Vereinigungen sind auch in der rund 40 Verbände umfassenden Plattform europäischer Sozial-NGOs vertreten.

Diese Sozial-Plattform hat sich darüber hinaus mit drei anderen NGO-„Familien“, die in den Bereichen Menschenrechte („Human Rights Group“), Umweltschutz („Green 8“) und Entwicklungszusammenarbeit („Concord“) in Brüssel aktiv sind, zu einem noch breiteren Bündnis zusammengeschlossen, der sogenannten „Civil Society Contact Group“. Diese nie dagewesene Allianz auf Brüsseler Ebene vertritt Millionen Menschen in ganz Europa und hat in der Folge eine Kampagne („Act4Europe“) lanciert, um die gemeinsamen Anliegen und Interessen der Zivilgesellschaft gegenüber dem Konvent zu vertreten.

Ein weiterer sehr positiver Aspekt des Entwurfs ist die vorgeschlagene Aufnahme der bereits auf dem EU-Gipfel in Nizza im Dezember 2000 verabschiedeten EU-Charta der Grundrechte in die Verfassung, wodurch die Charta rechtsverbindlich würde. Artikel 21 der Charta verbietet ja ausdrücklich Diskriminierung u. a. aufgrund der sexuellen Orientierung.

Erfreulich ist auch, daß der „zivile Dialog“ endlich auf eine rechtliche Grundlage gestellt werden soll. So heißt es im Absatz 2 von Artikel 46 („Grundsatz der partizipativen Demokratie“) : Die Organe der Union pflegen einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft.

Einen Wermutstropfen im Verfassungsentwurf stellt jedoch der Umstand dar, daß der bisherige Artikel 13 EG-Vertrag, in dem seit dem Amsterdamer Vertrag (1999) die Bekämpfung von Diskriminierung u. a. aufgrund der sexuellen Orientierung geregelt ist, inhaltlich unverändert als Artikel III-5 in die EU-Verfassung übernommen werden soll. Die genannten NGOs sind vehement dafür eingetreten, bei der jetzigen Gelegenheit die Beschlußfassung über Artikel-13-Maßnahmen zur Diskriminierungsbekämpfung von Einstimmigkeit auf qualifizierten Mehrheit im Rat und vom Konsultations- auf das Mitentscheidungsverfahren im Europa-Parlament zu ändern. Denn wenn die EU im nächsten Jahr 25 Mitglieder haben wird, werden dann wohl kaum mehr Maßnahmen in diesem Bereich einstimmig im Rat beschlossen.

Daß bei der gerade laufenden Regierungskonferenz dieser Punkt jedoch noch geändert wird, ist kaum zu erwarten. Hier wird es wohl eher darum gehen, das Erreichte gegen die 25 Regierungen zu verteidigen – und etwa den bizarren Versuch einiger Regierungen abzuwehren, einen Gottesbezug in die EU-Verfassung aufzunehmen. Derzeit ist in diesem Zusammenhang in der Präambel nur von „den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas“ die Rede.

 

Nachträgliche Anmerkungen: Der EU-Verfassungsvertrag wurde am 29. Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten unterzeichnet, allerdings sollte er nie in Kraft treten, weil er bei den nachfolgenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden durchfiel. Nach einer längeren Nachdenkpause und einigen Wiederbelebungsversuchen beschloss der Europäische Rat im Juni 2007, die weitere Ratifizierung des Verfassungsvertrags aufzugeben und stattdessen einen „Reformvertrag“ zu verabschieden, der die Substanz des Verfassungstextes in die bereits bestehenden Verträge einarbeiten sollte. Dieser Reformvertrag wurde von den EU-Staats- und Regierungschefs im Dezember 2007 in Lissabon unterzeichnet. Der Vertrag von Lissabon trat nach der Ratifizierung durch alle Mitgliedsstaaten am 1. Dezember 2009 in Kraft.