Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Dem Europäischen Rat wird Mitte Oktober in Biarritz der Entwurf einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorgelegt werden. Auf dem EU-Gipfel am 7. und 8. Dezember 2000 in Nizza soll diese Charta dann feierlich proklamiert werden. Obwohl es sich hier um ein eminent wichtiges Projekt handelt, hat es in Österreich bisher kaum eine öffentliche Debatte über die Inhalte der geplanten Charta gegeben, zu sehr hat die lächerliche Sanktionendiskussion alle anderen EU-Themen in den Hintergrund gedrängt. Dieser Umstand wirft einmal mehr ein bezeichnendes Licht auf das erschreckend niedrige Niveau, auf dem sich Politik und Journalismus ganz allgemein in Österreich bewegen. Erst der EP-Abgeordnete Hans-Peter Martin (SPÖ) hat im Standard vom 23. September die österreichische Öffentlichkeit über den mangelhaften und enttäuschenden Entwurf alarmiert.
Diese Charta wird auch für Lesben und Schwule relevant sein und ihre Situation potentiell verbessern können. Allerdings wird die Charta auch ihre Grenzen haben. Daher wollen wir mit diesem Beitrag über den Stand der Dinge in Sachen Grundrechtscharta ausführlich informieren. Wie alle großen Projekte in der EU hat auch sie eine längere Vorgeschichte, die zu kennen nicht uninteressant ist und zudem ein besseres Verständnis des politischen Hintergrunds ermöglicht. Daher sei an dieser Stelle auf diese Vorgeschichte eingegangen.
Die Vorgeschichte
Als die Europäische Gemeinschaft gegründet wurde, war man nicht der Ansicht, ihre primär wirtschaftlichen Ziele und Aktivitäten würden einen Grundrechtsaspekt beinhalten. Die Gründungsmitglieder hatten überdies gemeinsam mit anderen Staaten den Europarat, eine eigenständige Organisation, gegründet. Der Schutz der Menschenrechte würde durch die im Rahmen des Europarats 1950 verabschiedete Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und seinen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) garantiert werden.
Im Laufe der Zeit nahm jedoch das Verständnis dafür, daß Grund- und Menschenrechte einen integralen Bestandteil des Gemeinschaftsrechts darstellen, immer mehr zu. Anfänglich erlangten die Grund- und Menschenrechte diese Anerkennung durch Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), der in mehreren Rechtssachen entschied, daß die Grund- und Menschenrechte Teil der allgemeinen Rechtsgrundlagen sind, zu deren Anwendung der Gerichtshof verpflichtet ist. Eine der wichtigsten Quellen in diesem Zusammenhang stellt dabei natürlich die erwähnte Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) dar.
Der erste Gemeinschaftsvertrag, der einen ausdrücklichen Hinweis auf Grundrechte enthielt, war schließlich die 1986 angenommene Einheitliche Europäische Akte.
Die Fragen der Grundrechte haben sich auch mit den Diskussionen über die Unionsbürgerschaft überlagert, die durch den Maastricht-Vertrag (1993) geschaffen wurde – jede/r Bürger/in eines EU-Mitgliedsstaats ist Unionsbürger/in. Diese war jedoch eher von symbolischer als von realer Bedeutung, da die UnionsbürgerInnen nur in den Genuß der eingeschränkten bürgerlichen und politischen Rechte, wie sie im Vertrag definiert sind, kommen. Zu diesen zählen das Recht, überall in der EU leben und arbeiten zu können, und das aktive und passive Wahlrecht bei Wahlen zum Europäischen Parlament und bei Lokalwahlen (wobei auch dieses in beiden Fällen gewissen Einschränkungen unterliegt). Die Forderungen nach einem umfassenderen Konzept der Unionsbürgerschaft und nach garantierten Rechten für alle in der EU lebenden Menschen, nicht nur für die StaatsbürgerInnen der Mitgliedsstaaten, wurden immer lauter.
Im Laufe der Zeit hat sich auch verstärkt die Einsicht durchgesetzt, daß Maßnahmen zur Errichtung des Binnenmarkts, wie z. B. der freie Personenverkehr, ihr Ziel nicht erreichen können, wenn nichts gegen die Unterschiede im Grad des Schutzes vor den verschiedenen Formen der Diskriminierung unternommen wird. Dies kam auch im Weißbuch zur Sozialpolitik aus dem Jahre 1994 zum Ausdruck, in dem festgestellt wurde, daß die Union Maßnahmen zum Schutz der Menschen vor Diskriminierung setzen muß, will sie die Freizügigkeit der Personen tatsächlich Realität werden lassen.
Der Vertrag von Maastricht war zudem bei den Menschen auf wenig Gegenliebe gestoßen. Die Regierungen der Mitgliedsstaaten erkannten, daß sie sich mit der rückläufigen Unterstützung in der Bevölkerung für die europäische Integration auseinandersetzen und auf die weitverbreitete Skepsis in Hinblick auf ihre Richtung und Auswirkungen, wie sie sich immer wieder in Meinungsumfragen niederschlug, reagieren mußten.
Es entstand beträchtlicher politischer Druck, die soziale Dimension zu stärken und Europa näher zu seinen BürgerInnen zu bringen. Im Mai 1995 forderte das Europäische Parlament in einer Entschließung, die damals bevorstehende Regierungskonferenz möge „einen Vertrag für die Bürger der Union“ verabschieden, der den EU-BürgerInnen mehr Rechte und allen in der EU lebenden Menschen einen verbesserten Grundrechtsschutz zuerkennen solle. Von unterschiedlichster Seite wurden Forderungen laut nach Aufbau eines „sozialen Europas“ durch Änderungen im Vertrag, mit denen die sozialpolitischen Bestimmungen erweitert, die Gemeinschaftspolitiken in Bereichen wie Beschäftigung und Umwelt gestärkt, Diskriminierung verboten und bürgerliche und soziale Grundrechte verankert werden.
Im Sozialpolitischen Aktionsprogramm 1995–1997 der Europäischen Kommission wurde die Einsetzung eines Komitees der Weisen angekündigt. Dieses sollte untersuchen, welche Rolle die „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer“ aus dem Jahre 1989 in Hinblick auf die bevorstehende Revision der Verträge spielen könnte. Das Komitee präsentierte seinen Bericht „Für ein Europa der politischen und sozialen Rechte“1 im März 1996. Es trat darin vehement für die Schaffung eines „sozialen Europas“ ein, in dem die sozialen und wirtschaftlichen Fragen miteinander verzahnt werden, und betonte die Notwendigkeit, das Bewußtsein für Demokratie und Bürgersinn in der Union dadurch zu stärken, daß soziale und bürgerliche Rechte als unteilbar behandelt werden. Der Bericht schlug als ersten Schritt die Verankerung eines Kernbestands an Rechten, darunter das Verbot jeglicher Diskriminierung, in den Verträgen vor. Dem sollte dann eine umfassende Konsultation folgen, um eine vollständige Liste bürgerlicher, sozialer und politischer Rechte zu erarbeiten. Zu einem solchen Diskriminierungsverbot kam es im Zuge der Regierungskonferenz, die im Juni 1997 mit dem Vertrag von Amsterdam endete, allerdings noch nicht. Es reichte bloß für die Bestimmung des Artikels 13 EG-Vertrag, durch die der Union die Kompetenz übertragen wurde, Diskriminierung aus bestimmten Gründen zu bekämpfen und dazu einstimmig geeignete Vorkehrungen zu treffen.
Die Europäische Kommission bekundete jedoch ihre Absicht, diese Debatte voranzutreiben, und setzte zu diesem Zweck eine hochrangige Expertgruppe ein, in der Professor Spiros Simitis den Vorsitz führte. Sie sollte den Status der Grundrechte in den Verträgen nach dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags analysieren und die Möglichkeit prüfen, bei der nächsten Revision der Verträge einen Grundrechtskatalog in diese aufzunehmen. Die Kommission nutzte somit die zwei Jahre zwischen der Annahme des Amsterdamer Vertrags und seinem Inkrafttreten am 1. Mai 1999, um schon die nächsten Schritte vorzubereiten.
Der Bericht dieser Expertengruppe – „Die Grundrechte in der Europäischen Union verbürgen: Zeit zum Handeln“2 – wurde im Februar 1999 veröffentlicht und enthält spezifische Empfehlungen zur Aufnahme von garantierten Rechten in die Verträge. Beim Europäischen Rat in Köln im Juni 1999 wurde vereinbart, die Ausarbeitung einer solchen Charta der Grundrechte in Angriff zu nehmen. Diese solle ein präziser Katalog von Menschenrechtsnormen werden, in dem die durch die EMRK garantierten Grund- und Freiheitsrechte, gewisse soziale Rechte sowie jene grundlegenden Rechte, die den BürgerInnen der Europäischen Union in ihrer Eigenschaft als UnionsbürgerInnen zuerkannt worden sind (etwa das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union), zusammengefaßt werden. Ein Entwurf soll bis zum Europäischen Rat im Dezember 2000 ausgearbeitet werden. „Danach wird zu prüfen sein, ob und gegebenenfalls auf welche Weise die Charta in die Verträge aufgenommen werden sollte“, hieß es dazu in den Schlußfolgerungen des Kölner EU-Gipfels.3
Die Charta wird ausgearbeitet
Auf dem EU-Gipfel in Tampere im Oktober 1999 wurde schließlich das Gremium bestimmt, das die Charta ausarbeiten soll:4 Es erhielt die Bezeichnung „Konvent“ und besteht aus je zwei Mitgliedern der 15 nationalen Parlamente, aus je einem Beauftragten der Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Staaten und aus 16 Abgeordneten des Europäischen Parlaments sowie eines Beauftragten des Präsidenten der Europäischen Kommission.
Bereits in Tampere wurde auch die Arbeitsweise des Konvents festgelegt. Ebenso, wer anzuhören ist, nämlich der Wirtschafts- und Sozialausschuß, der Ausschuß der Regionen, der Europäische Bürgerbeauftragte sowie gesellschaftliche Gruppen und Sachverständige. Ebenfalls wurde festgelegt, daß die Beratungen des Konvents und alle ihm vorgelegten Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich sein müssen. Die Beratungen sind in der Tat völlig transparent gewesen, alle Dokumente – auch die zahlreichen schriftlichen Stellungnahmen der Zivilgesellschaft, darunter der ILGA-Europa – sind auf einem eigenen Website abrufbar.
Im Dezember 1999 trat das 62köpfige Gremium zum erstenmal in Brüssel zusammen. In 15 zwei- bis dreitägigen Sitzungen wurde danach unter Vorsitz des deutschen Altbundespräsidenten Roman Herzog der Textentwurf erarbeitet, quasi in mehreren Lesungen. Im April wurden rund 60 VertreterInnen von nichtstaatlichen Organisationen – darunter der ILGA-Europa – zu einem Hearing in Brüssel geladen, wo sie Gelegenheit hatten, in fünfminütigen Statements ihre Anliegen auch mündlich vorzutragen. Im Juni standen dann rund 1000 Abänderungsanträge zur Behandlung an. Am 25. und 26. September trat der Konvent zu seiner vorerst letzten Sitzung zusammen, um den endgültigen Textentwurf fertigzustellen, den er dem Europäischen Rat in Biarritz am 13. und 14. Oktober vorlegen wird. Der Europäische Rat wird dann zum Entwurf der Charta Stellung nehmen. Möglicherweise wird der Konvent dann bis Nizza am endgültigen Text weiterarbeiten.
Feierliche Erklärung oder rechtsverbindlicher Text?
Eine nicht nur innerhalb der befaßten NGOs sondern auch in der interessierten Öffentlichkeit diskutierte Frage ist jene, ob die Charta rechtsverbindlich in die Gemeinschaftsverträge aufgenommen oder bloß eine feierliche Proklamation wird. In Nizza wird sie sicherlich nur feierlich proklamiert werden, wie ja der Auftrag des Rates von Köln lautet. „Danach wird zu prüfen sein, ob und gegebenenfalls auf welche Weise die Charta in die Verträge aufgenommen werden sollte.“ Es ist damit zu rechnen, daß in Nizza ein Verfahren verabschiedet wird, wie die Charta tatsächlich in die Verträge aufgenommen werden kann, wobei dies naheliegenderweise wohl im Rahmen der nächsten Regierungskonferenz geschehen wird, mit deren Beginn aber frühestens im Jahre 2003 zu rechnen ist. Die derzeit laufende Regierungskonferenz, die in Nizza abgeschlossen werden soll, beschäftigt sich nicht mit der Charta. Jedenfalls ist der Druck der Öffentlichkeit inzwischen zu groß, als daß die Charta nur eine unverbindliche Deklaration bleiben könnte. Allerdings ist die Kritik am gegenwärtigen Entwurf für die Charta von seiten der NGOs dermaßen heftig, daß sie sich eher dafür aussprechen, lieber gar keine Charta als den jetzigen Entwurf zu proklamieren.
Die Relevanz für Lesben, Schwule und Transgender-Personen
Abgesehen davon, daß alle in der Charta berücksichtigten Rechte natürlich auch für alle Lesben, Schwulen und Transgender-Personen von Bedeutung sind, gibt es zwei Artikel in der Charta, die von ganz spezifischer Signifikanz für sie sind. Da ist zum einen der Nichtdiskriminierungsartikel. Er hat die Ziffer 21 und findet sich im Kapitel III – „Gleichheit“ (die Charta ist in sieben Kapitel eingeteilt). Artikel 21 formuliert ein absolutes Diskriminierungsverbot: Absatz 1 in der momentanen Fassung, die unter der Bezeichnung „CONVENT45“ firmiert und auf dem Website des Konvents abrufbar ist, lautet: Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.
Daß „sexuelle Ausrichtung“ ausdrücklich als Schutzkategorie in diesen Artikel aufgenommen worden ist, war einerseits naheliegend, weil sie ja auch im Artikel 13 EG-Vertrag vorkommt, andererseits wurde dies bereits im erwähnten Simitis-Bericht empfohlen. Natürlich ist es auch ein Erfolg des Lobbying der ILGA-Europa, die dies in ihren Stellungnahmen gefordert hat. Im Zuge der Ausarbeitung des Textes gab es indes auch Versuche, „sexuelle Orientierung“ aus dem Artikel 21 zu streichen, etwa durch einen Abänderungsantrag des persönlichen Beauftragten Premierminister Tony Blairs, Lord Goldsmith. Daß Blair ausgerechnet einen erzkonservativen Vertreter in den Konvent entsandte, kann man böswillig fast schon als leichte Sabotage des Projekts werten. Überhaupt ist man ja in einigen Mitgliedsstaaten, nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern auch in Skandinavien, allerdings aus unterschiedlichen Gründen, der Charta gegenüber eher vorsichtig und skeptisch eingestellt.
Jedenfalls haben sich schließlich jene durchgesetzt, die „sexuelle Orientierung“ explizit erwähnt sehen wollten. Was ILGA-Europa jedoch nicht gelang, war, die ausdrückliche Aufnahme von „geschlechtlicher Identität“ in den Artikel 21 zu erwirken.
Die Aufnahme „sexueller Orientierung“ ist sicherlich auch deshalb ein so großer Erfolg, als Artikel 21 ein klares und allgemeines Diskriminierungsverbot formuliert. Selbst wenn die Charta vorerst nur eine Deklaration ist, ist sie ein wichtiges Dokument, auf daß sich Lesben und Schwule in der EU berufen können. Wird die Charta später rechtsverbindlich, wird sie dann die erste internationale Konvention sein, in der „sexuelle Orientierung“ ausdrücklich berücksichtigt wird.
Der zweite für Lesben und Schwule spezifisch interessante Artikel ist jener über das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, zurzeit Artikel 9 im Kapitel II – „Freiheiten“. Hier haben sich allerdings die Traditionalisten durchgesetzt, obwohl es sehr weitreichende Anträge – auch in Übereinstimmung mit den Forderungen der ILGA-Europa – gegeben hat, die Gleichstellung von Lebensgemeinschaften und eingetragenen Partnerschaften, ausdrücklich auch gleichgeschlechtlicher, mit der Ehe hier festzuschreiben. Artikel 9 in seiner jetzigen Fassung verweist jedoch diese Rechte zurück an die Mitgliedsstaaten. Er lautet: Das Recht, eine Ehe einzugehen, und das Recht, eine Familie zu gründen, werden nach den einzelstaatlichen Gesetzen gewährleistet, welche die Ausübung dieser Rechte regeln.
Hier ist also für Lesben, Schwule und Transgender-Personen unmittelbar nichts zu gewinnen.
Eingeschränkter Anwendungsbereich
In diesem Zusammenhang ist auch auf den größten „Haken“ der Charta hinzuweisen. Der findet sich im Artikel 49 im Kapitel VII – „Allgemeine Bestimmungen“. Dort heißt es nämlich:
- Diese Charta gilt für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung gemäß ihrer jeweiligen Zuständigkeiten.
- Diese Charta begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Gemeinschaft und für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.
Mit anderen Worten: Die Mitgliedsstaaten sind der Charta nur dann unterworfen, wenn sie Gemeinschaftsrecht anwenden. Da Strafrecht und Familienrecht weiterhin bei den Mitgliedsstaaten ressortieren, wird man sich gerade in diesen Bereichen, wo Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung am häufigsten vorkommen, leider nicht auf den Artikel 21, das allgemeine Diskriminierungsverbot, berufen können.
In diesem Zusammenhang ist es übrigens auch sehr merkwürdig, daß sich die Charta trotz dieser Einschränkung des Artikels 49 mit Rechten befaßt, die im Zuge der Anwendung von Gemeinschaftsrecht nie und nimmer zum Tragen kommen können. So ist schwer vorstellbar, bei welcher Gelegenheit die Organe und Einrichtungen der EU bzw. ihre Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht die Todesstrafe anwenden könnten, die im Artikel 2, Absatz 2 im Kapitel I – „Würde des Menschen“ – geächtet wird (Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden). Dasselbe gilt für Folter (Artikel 4).
Allerdings könnte die Bestimmung über den Anwendungsbereich der Charta gerade für jene Bereiche interessant werden, wo es um Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften geht. Denn wenngleich das Recht, eine Ehe einzugehen bzw. eine Familie zu gründen, ins Familienrecht der Mitgliedsstaaten ausgelagert bleibt, so betreffen Bereiche wie die Niederlassungsfreiheit bzw. der freie Personenverkehr innerhalb der EU für alle EU-BürgerInnen oder der Familiennachzug doch wesentliches EU-Recht. Gerade die Freizügigkeit der Personen ist eine der wichtigsten Säulen des Gemeinschaftsrechts. Wenn Personen nunmehr in diesem Recht wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden, dann muß das natürlich einen Verstoß gegen die Charta darstellen.
Man kann sich zum Beispiel den Fall vorstellen, daß ein in Schweden eingetragenes gleichgeschlechtliches Paar, bestehend aus einer Schwedin und einer Drittstaatsangehörigen, sagen wir einer Polin, sich in einem Land niederlassen möchte, wo es die eingetragene Partnerschaft noch nicht gibt. Während sich die Schwedin problemlos in, sagen wir Österreich, niederlassen kann, hat sie keinen Rechtsanspruch – im Gegensatz zu einem Landsmann der mit einer Polin verheiratet ist –, ihre polnische Partnerin mitzunehmen. Hier käme es ganz eindeutig zu einer nach Artikel 21 der Charta verbotenen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung in der Anwendung von EU-Recht durch einen Mitgliedsstaat.
Das Beispiel könnte man auch mit zwei Schweden durchspielen, von denen nur einer eine Beschäftigung in seinem neuen Wohnsitzland hat, der Partner aber sein grundsätzliches Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU mangels Arbeitsplatz, beruflicher Fähigkeiten oder finanzieller Mittel nicht in Anspruch nehmen kann – diese sind ja nach wie vor auch für EU-BürgerInnen Voraussetzung für die Freizügigkeit. Bei einem verheirateten Paar spielt es jedoch keine Rolle, wenn einer der Ehegatten keine dieser Voraussetzungen erfüllt.
Nun könnte man einwenden, daß – um bei diesem Beispiel zu bleiben – Österreich die eingetragene Partnerschaft in Schweden und anderen Mitgliedsstaaten nicht anerkennen muß, weil einerseits die skandinavischen Länder von sich aus ihren Gesetzen eine internationale Wirkung versagt haben und andererseits es sich ja um keine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung handle, da ja auch heterosexuelle LebensgefährtInnen aus Drittstaaten, die ihren EU-PartnerInnen nach Österreich folgen möchten, nicht automatisch Anrecht auf Aufenthalt hätten wie Ehegatten.
Entwicklung ist nicht aufzuhalten
Dieses Argument wird aber spätestens nächstes Jahr – zumindest für die Niederlande – obsolet, wenn dort die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet wird. Dann fällt nämlich auch der gleichgeschlechtliche Ehegatte unter den Begriff des Ehegatten in allen gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen zum freien Personenverkehr und zur Familienzusammenführung. Eine solche in den Niederlanden rechtsgültig geschlossene Ehe zwischen zwei Frauen oder zwei Männern könnte weder Österreich noch der Europäische Gerichtshof (EuGH) ignorieren – zumal Familienrecht gerade eben in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten fällt und die EU hier über keine Kompetenz verfügt. Verweigerte Österreich den Aufenthalt einem z. B. kanadischen Ehegatten eines Niederländers, der sich bei uns niedergelassen hat, so wäre dies eine Verletzung der Charta aufgrund der sexuellen Orientierung bzw. – eigentlich in erster Linie – auch des Geschlechts, denn theoretisch könnten ja dann auch zwei heterosexuelle Frauen bzw. zwei heterosexuelle Männer einander heiraten. Zwar hat ein Sprecher der EU-Kommission nach der Abstimmung im niederländischen Unterhaus am 12. September erklärt, die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe sei eine Sache, die allein jedem einzelnen Mitgliedsstaat zukomme, doch hier hat der Gerichtshof wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden.
Daraus ergeben sich dann wieder neue Konsequenzen. Zum einen wird es dann schwer argumentierbar sein, den eingetragenen PartnerInnen aus Schweden, Dänemark, Frankreich und den beiden EWR-Ländern Island und Norwegen nicht dieselben Rechte zu gewähren wie den gleichgeschlechtlichen Ehegatten aus den Niederlanden, zumal die nordischen Regelungen ja quasi einer Ehe gleichkommen. Zum anderen wird es noch schwieriger zu argumentieren sein, daß niederländische gleichgeschlechtliche Ehegatten in Österreich dieselben Rechte haben wie österreichische verschiedengeschlechtliche Ehepaare, während die einheimischen Lesben und Schwulen in ihren Partnerschaften völlig rechtlos bleiben. Hier könnten also jene Mitgliedsstaaten, die noch keinerlei rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften haben, gehörig unter Zugzwang kommen.
Jedenfalls wird die Charta sicherlich noch viel Stoff für den Streit der Juristen und Juristinnen liefern, und man wird sich auf spannende Musterprozesse vor dem EuGH freuen können, denn es wird wohl am Gerichtshof liegen, in manchen Bereichen letztendlich Klarheit zu schaffen.
Und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)?
Diese letzten Beispiele und Artikel 49 über den Anwendungsbereich der Charta illustrieren auch deutlich, warum eine eigene EU-Charta notwendig ist. Viele haben ja im Vorfeld argumentiert, man brauche keine eigene EU-Charta der Grundrechte, weil ja ohnehin alle 15 Mitgliedsstaaten die Europäische Menschenrechtskonvention des Europarats ratifiziert haben. Notfalls hätte ja auch die Union zusätzlich noch der EMRK beitreten können, wie dies einige Länder lieber gesehen hätten. Vor allem in Skandinavien und dem Vereinigten Königreich steht man der EU-Charta eher skeptisch gegenüber, wohl auch, weil man fürchtet, dies sei der Anfang für eine EU-Verfassung und eine föderalistische EU.
Andererseits wollen auch die EuGH-Richter in Luxemburg nicht ihre KollegInnen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg über Gemeinschaftsrecht befinden und urteilen lassen. Hier besteht eine Rivalität und Eifersucht zwischen den Gerichtshöfen. 1996 hat der EuGH in einer offiziellen Stellungnahme auch festgehalten, daß ein Beitritt der EU zur EMRK gar nicht möglich sei.5 Und das von manchen befürchtete Risiko, daß Luxemburg und Straßburg bei gleich- oder ähnlich gelagerten Fällen unterschiedliche Urteile fällen könnten, bestünde ja durchaus.
Schwachpunkte des derzeitigen Entwurfs für eine EU-Charta
Während Lesben und Schwule, was ihre spezifischen Anliegen betrifft, einigermaßen mit dem Entwurf der Charta zufrieden sein können, können sie das als gewöhnliche EU-BürgerInnen, speziell als ArbeitnehmerInnen, schon weniger sein.
Europäische Netzwerke und Dachverbände von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs), die in verschiedenen sozialen Bereichen tätig sind und in der Plattform europäischer Sozial-NGOs zusammengeschlossen sind, haben gemeinsam mit dem Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) eine zweijährige Kampagne geführt, daß speziell die sozialen Rechte in der Charta entsprechend verankert werden. In dieser Hinsicht weist der vorliegende Entwurf allerdings dermaßen große Defizite auf, daß die Plattform und der EGB auf einer gemeinsamen Konferenz am 30. August und 1. September dieses Jahres in Brüssel zur Ansicht gelangt sind, daß es besser ist, diesen Entwurf lieber gar nicht zu verabschieden als in der derzeitigen Form. Die ILGA-Europa war bei dieser Konferenz durch ihre beiden Vorstandsvorsitzenden JACKIE LEWIS und den Autor dieser Zeilen vertreten. Letzterer nahm auch an der österreichischen Tagung im Rahmen dieser Kampagne teil, die gemeinsam vom ÖGB und Volkshilfe am 14. Juli in Wien veranstaltet wurde.
Insbesondere wurde kritisiert, daß der Chartaentwurf hinter die Rechte der revidierten Europäischen Sozialcharta des Europarats aus 1996 zurückfällt und im Gegensatz zu dieser etwa das Recht auf Arbeit genauso wenig vorsieht wie das Recht auf Wohnen, auf Schutz vor Armut und sozialer Ausgrenzung oder auf soziale Dienstleistungen. Auch das Recht auf Mindesteinkommen fehlt im Entwurf. Ebenso das Recht zu streiken. Dafür findet sich als ein Novum für eine Grundrechtskonvention das Recht auf unternehmerische Freiheit. Dieser Artikel 16 ist dem umtriebigen, bereits erwähnten Vertreter Tony Blairs zu verdanken und hat die spöttische Bezeichnung „Lord-Goldsmith-Gedächtnis-Artikel“ erhalten. Während die Sozialpartner stört, daß sie durch die Charta nicht auf europäischer Ebene anerkannt werden, kritisieren die NGOs, daß ihre Konsultation in keinem Artikel vorgesehen ist. Auch die Rechte von sich legal in der Union aufhältigen Drittstaatsangehörigen sind nach Ansicht der Zivilgesellschaft nicht ausreichend berücksichtigt.
In der Schlußphase hat der Konvent seinen endgültigen Entwurf jedoch noch entscheidend verbessert. Der eingangs erwähnten Kritik Hans-Peter Martins sowie jener der NGOs wurde dabei Rechnung getragen. So wurde etwa das Streikrecht ausdrücklich in den Artikel 28 aufgenommen. Trotzdem ist dieser Entwurf nicht der erhoffte große historische Wurf geworden, sondern lediglich ein kleiner gemeinsamer Nenner.
Zusammenfassung
Die geplante EU-Charta wäre auch für Lesben und Schwule relevant und brächte ihnen einen verbesserten Schutz vor Diskriminierung.
Auch wenn sie vorerst nicht rechtsverbindlich wäre, könnte der EuGH diese Charta nicht völlig ignorieren, sondern müßte sie bei seinen Entscheidungen berücksichtigen.
Auch wenn der Anwendungsbereich der Charta auf die Organe und Einrichtungen der Union sowie für die Mitgliedsstaaten ausschließlich auf die Durchführung von Gemeinschaftsrecht beschränkt ist, verbietet Artikel 21 der Charta zumindest in all diesen Bereichen jegliche Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Zusätzlich hätte die Charta dadurch in Ergänzung zum Artikel 13 EG-Vertrag noch stärkere Signalwirkung auf die Mitgliedsstaaten, im Kampf für die Gleichstellung und gegen die Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Lesben und Schwulen auch innerstaatlich mehr zu tun.
Obzwar das Recht auf Eingehen einer Ehe und Gründung einer Familie nicht allgemein für die gesamte EU gültig definiert wird, ergeben sich in Verbindung mit Artikel 21 und Artikel 49 doch Chancen auf Verbesserungen in diesem Bereich.
Anmerkung:
Dieser Artikel basiert auf einem Referat für die Veranstaltung „Lesben und Schwule in der Europäischen Union“, die von der niedersächsischen Landesregierung am 27. September 2000 im Europa-Pavillon der EXPO in Hannover veranstaltet wurde. Die LN haben bisher über die EU-Grundrechtscharta in den Ausgaben 3/1999, S. 42 f, und 3/2000, S. 32, berichtet.
Fußnoten:
1 Für ein Europa der politischen und sozialen Grundrechte. Bericht des Komitees der Weisen unter Vorsitz von Maria de Lourdes Pintasilgo. Herausgegeben von der Europäischen Kommission, Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg 1996, ISBN 92-827-7695-6.
2 Die Grundrechte in der Europäischen Union verbürgen: Zeit zum Handeln. Bericht der Expertengruppe „Grundrechte“. Herausgegeben von der Europäischen Kommission, Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg 1999, ISBN 92-828-6603-3.
3 Schlußfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Köln, 3. und 4. Juni 1999, Anhang IV: Beschluß des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
4 Schlußfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Tampere, 15. und 16. Oktober 1999, Anhang: Zusammensetzung und Arbeitsverfahren des Gremiums zur Ausarbeitung des Entwurfs einer EU-Charta der Grundrechte sowie einschlägige praktische Vorkehrungen entsprechend den Schlußfolgerungen von Köln.
5 Gutachten 2/94 über den Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 28. 3. 1996, Slg. 1996, I-1759.