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  2. Kurts Kommentar LN 3/1997

Glücklich ist, wer vergißt, …

Erschienen am 8. Juli 1997

…was doch nicht zu ändern ist. – Daß dieser Schlager aus der Fledermaus Österreichs heimliche Nationalhymne ist, weiß man nicht erst seit der Waldheim-Affäre. Verdrängen und Aussitzen sind nach wie vor „nationale“ Charakterzüge österreichischer Politik. Was allerdings nüchterne BeobachterInnen immer wieder in großes Erstaunen versetzt, ist die Aufregung, die in diesem Land entsteht, wenn im Grunde ohnehin weithin Bekanntes, aber eben gut Verdrängtes plötzlich unerledigt zurückkehrt und sich öffentliches Gehör verschafft.

Beispiel Kurdenmorde: Bereits damals, 1989, war zumindest profil-LeserInnen bekannt, daß die drei iranischen Kurdenmörder von den österreichischen Behörden aus Gründen der Staatsräson – oder dessen, was so mancher hohe Politiker und Staatsbeamte dafür zu halten schien – laufen gelassen wurden. Jetzt, da ein deutsches Gericht im sogenannten Mykonos-Prozeß wie im Andersen-Märchen laut ausgesprochen hat, was ohnehin alle gesehen, aber keiner sich laut zu sagen getraute – jetzt ist im Land der Teufel los: Untersuchungsausschüsse sollen eingesetzt werden, um herauszufinden, was wir sowieso alle wissen: Dieses Land ist eine feige Bananenrepublik ohne jegliches Rückgrat. Denn daß man sich auch als kleines Land mit Ländern wie dem Iran oder China anlegen kann, wenn einem Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien nur wichtig genug sind, hat ja etwa Dänemark jüngst zweifach beweisen. Glücklich ist, …

Bananenrepublik

Beispiel Wiedergutmachung – und da kommen wir zu Beispielen, die auch uns Lesben und Schwule tangieren: Als vor kurzem in Deutschland bekannt wurde, daß kriegsversehrte Nazi-Kriegsverbrecher Opferrenten ausbezahlt bekommen, während ihre Opfer teilweise leer ausgegangen sind, war das auch den österreichischen Medien, selbst TV-Magazinen aufgeregte und empörte Beiträge wert. Und in Österreich? Daß österreichischen SS-Leuten ihre Dienstzeit im KZ als Versicherungszeit auf die Pension angerechnet wird, während für die von ihnen gequälten Opfer – so sie nicht zu den rassistisch, politisch oder religiös Verfolgten zählten – die Haftzeit im KZ verlorene Versicherungszeit für die Pension bedeutete, woran sie jedes Monat bei Erhalt der aus diesem Grund geringeren Pension erinnert werden – ja, das ist den österreichischen Medien noch keine Zeile wert gewesen. Glücklich ist, …

Justizskandal

Beispiel Dr. Gross: Sensationellerweise weigerte sich das Justizministerium vor einigen Wochen, die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die neue Strafanzeige gehen Österreichs meistbeschäftigten Gerichtspsychiater Heinrich Gross ad acta zu legen, zur Kenntnis zu nehmen, und forderte weitere Erhebungen und Untersuchungen (vgl. profil # 21 vom 17. 5. 1997). In den vergangenen Jahrzehnten waren ja die Anzeigen gegen Gross regelmäßig von der Staatsanwaltschaft eingestellt worden. Aus den TV-Nachrichten erfährt man, daß der inzwischen 81jährige auch 1995 und 1996 jeweils mehr als hundert psychiatrische Gutachten für Österreichs Gerichte erstellt und dafür jeweils rund eine halbe Million Schilling kassiert hat. Jene, die sich erinnern und nicht vergessen haben, reiben sich die Augen: Das gibt’s doch nicht! Das kann doch nicht wahr sein – Gross arbeitet immer noch als Gerichtspsychiater! Ja, es ist einfach unglaublich! Dieses Land und seine Justiz sind total verrottet!

Gross ist das Paradebeispiel fürs Verdrängen und vor allem fürs „Aussitzen“. Denn der Massenmörder, als den man Gross laut einem Gerichtsurteil aus den 80er Jahren straflos bezeichnen kann, kam durch Berichte im profil schon 1979 (# 22) und 1980 (# 17a und 18) sowie 1981 (# 23 und 24) in die Schlagzeilen. Genützt hat’s offenkundig nichts, denn: Glücklich ist, …

Wir wollen lieber unglücklich sein als vergessen. Daher fassen wir in nachstehendem Kasten in unserer Rubrik „Nachgelesen – Damals in den LAMBDA-Nachrichten“ den Fall Gross, der sicherlich eines der dunkelsten Kapitel in der Nachkriegsgeschichte der heimischen Justiz ist, zusammen. Die LN haben in ihrer Ausgabe 2/1988 im Rahmen ihres Schwerpunkts „1938–1988“ ausführlich über diesen Justizskandal berichtet. Aber wie’s aussieht, ist der Fall Gross nach kurzem medialem Aufflackern schon wieder der österreichischen Vergessenheit anheimgefallen. Glücklich ist, …

Worüber ich immer noch rätsle, ist die Frage, ob es irgendwelche Gesetzmäßigkeiten gibt, dem jenes mediale Interesse folgt, das die Übungen und Anstrengungen des kollektiven Vergessens in diesem Land so abrupt wie unnachhaltig stört, oder ob diese auf völlig willkürlichen Zufällen beruht. Oder steht bloß das Bedürfnis nach und der Bedarf an abwechslungsreichen Sensationsberichten und Aufhängerstorys dahinter, die die Medien zur Auflagensteigerung brauchen?

Bleibt jedenfalls zu hoffen, daß Gross doch endlich der Prozeß gemacht wird.

Kurts Kommentar LN 3/1997

Nachträgliche Anmerkung

Gross wurde zwar schließlich doch noch der Prozess gemacht, zu einem Urteil kam es allerdings nicht mehr, denn im Laufe des Verfahrens wurde er wegen fortschreitender Demenz für verhandlungsunfähig erklärt. 2005 tauchten in russischen Archiven Dokumente auf, die Gross noch schwerer belasteten. Er starb im selben Jahr, ohne je rechtskräftig verurteilt worden zu sein. Siehe auch meinen Text über die Anfänge der HOSI Wien.

Damals in den LAMBDA-Nachrichten

1988 berichteten wir im Rahmen eines  Schwerpunkts zum 50. Jahrestag des Anschlusses über Heinrich Gross, dem vorgeworfen wird, an der Ermordung von  mindestens 200 geisteskranken Kindern am Euthanasie-Pavillon der Kindernervenklinik „Am Spiegelgrund“ (heute Steinhof auf der Baumgartner Höhe) beteiligt gewesen zu sein, vierzehn Kinder soll er eigenhändig ins Jenseits gespritzt haben. Sein unmittelbar Vorgesetzter wurde nach dem Krieg hingerichtet. Gross wurde rasch entnazifiziert und sollte jahrzehntelang als Gerichtspsychiater für die Justiz über das Schicksal tausender Menschen entscheiden. Einer dieser Fälle war der Homosexuelle Friedrich Zawrel. Er kam schon als Dreijähriger ins Heim und war in jenen NS-Tagen, als Gross Stationsarzt im Euthanasie-Pavillon war, dort Demonstrationsobjekt und Todeskandidat. Durch die Hilfe einer Krankenschwester gelang ihm 1944 die Flucht. 31 Jahre später, im November 1975, sitzt er Gross im Gefängnis gegenüber. Gross soll mittels Gutachten feststellen, ob Zawrel, der – wenig überraschend – eine kriminelle Karriere hinter sich hatte, ein gefährlicher Rückfallstäter ist und zwangsverwahrt werden muß. Zawrel, damals 46, hatte bis dahin die Hälfte seines Lebens in Anstalten verbracht. Mit vierzehn das erstemal straffällig, handelte er sich insgesamt dreizehn Vorstrafen ein, darunter wegen Diebstahls, aber hauptsächlich wegen Homosexualität nach dem alten § 129 B. Bei diesem Gespräch mit Gross im November 1975 erkennt Zawrel den Gutachter als den Arzt von der Mordklinik wieder und gibt ihm dies auch zu verstehen. Gross’ Gutachten fiel daraufhin vernichtend aus, galt es doch, sich eines unliebsamen Zeugen zu entledigen. Zawrel kam nicht nur weitere sechseinhalb Jahre in Haft, das Gericht verfügte überdies die anschließende Einweisung in eine Anstalt für gefährliche Rückfallstäter, die 1981 fällig gewesen wäre. Jahrelang kämpfte Zawrel mittels Eingaben gegen diese Einweisung. Dank engagierter Journalisten wie Robert Buchacher von profil konnte diese Einweisung 1981 verhindert werden. Gross’ Tätigkeit blieb indes unangefochten…

Daß für Gross Homosexualität eine Krankheit und auf keinen Fall „normal“ war, mußte auch das HOSI-Wien-Gründungsmitglied Georg Pairst in jungen Jahren erleben. Wir haben über Georgs Schicksal ausführlich in den LN 4/1985 (S. 30 f) berichtet. Hier daher nur eine kurze Zusammenfassung: Georg geriet im Alter von 17 mit seiner Mutter in Streit, nachdem sie ihn mit einem Mann im Bett erwischt hatte. Das war 1971. Sie rief die Polizei, und Georg landete auf der Psychiatrie. Dort sollte er fast fünf Jahre zwangsweise verbringen müssen. In dieser Zeit wurden er und seine Homosexualität mit schwersten Psychopharmaka und Elektroschocks behandelt. Eine Bürgerinitiative gegen die mittelalterlichen Zustände in der Psychiatrie, die damals in Österreich herrschten, der Verein „Demokratische Psychiatrie“, der engagierte Ärzte wie Werner Vogt [1938–2023] angehörten, setzte sich für Georg ein. 1976 war sein schlimmstes Martyrium beendet, Georg war 21 Jahre alt, als er den österreichischen Gulag verlassen konnte.