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Erinnern für die Zukunft

Totgeschlagen – totgeschwiegen

Für die Publikation des Gedenkprojekts Erinnern für die Zukunft verfasste ich diesen Beitrag in: Kilian Franer/Ulli Fuchs (Hg.): Erinnern für die Zukunft. Ein Projekt zum Gedächtnis an die Mariahilfer Opfer des NS-Terrors. Echomedia-Verlag, Wien 2009.  

Lange Zeit wurde in Österreich den homosexuellen Opfern des Nationalsozialismus die „offizielle“ Anerkennung verwehrt. Das lag in erster Linie an der Kontinuität der strafrechtlichen Verfolgung der Homosexualität. In Österreich hatte das Totalverbot für homosexuelle Handlungen praktisch immer bestanden, seit es ein kodifiziertes Strafrecht gab. Der betreffende § 129 I b des Strafgesetzes aus 1852 war bis zu seiner Aufhebung im Jahr 1971 unverändert in Kraft. Selbst während der Zeit des Anschlusses ans Dritte Reich fällten die Gerichte in der „Ostmark“ ihre Urteile nach dieser Bestimmung und nicht nach dem deutschen § 175. Dies hatte auch zur Folge, dass weibliche Homosexualität – im Gegensatz zum Altreich – auf dem Territorium des untergegangenen Österreichs weiterhin strafrechtlich verfolgt wurde. Es ist allerdings kein Fall einer lesbischen Frau bekannt, die wegen ihrer Homosexualität in ein Konzentrations- oder Vernichtungslager verschleppt worden wäre.

Die homophobe Propaganda und Gehirnwäsche des Nazi-Regimes sollte indes auch nach dessen Ende ungebrochen weiterwirken: „Bevölkerungspolitische Blindgänger“, wie Homosexuelle von den Nazis bezeichnet wurden, konnte und wollte man sich offenbar auch in den Aufbaujahren nach dem Krieg nicht „leisten“. Das Totalverbot blieb bestehen. Wiewohl homosexuelle Männer in den KZ-Lagern eine separate Häftlingskategorie mit eigener Kennzeichnung darstellten – sie mussten einen rosafarbenen Winkel als Erkennungszeichen auf ihrer Häftlingskleidung tragen –, wurden sie nach dem Krieg von jeglicher Entschädigung und Wiedergutmachung ausgeschlossen – selbst für die oft jahrelange „Schutzhaft“, die Homosexuelle nach Verbüßung der von einem Gericht verhängten Gefängnisstrafe in KZ-Haft verbringen mussten. Die Politik weigerte sich, Verfolgung aufgrund von Homosexualität als typisch nationalsozialistisches Unrecht einzustufen. Das Opferfürsorgegesetz sah eine Entschädigung lediglich aufgrund rassischer, religiöser oder politischer Verfolgung vor.

Das allgemeine homophobe gesellschaftliche Klima in der Nachkriegszeit war klarerweise auch keinerlei Ermunterung für die Betroffenen, um ihre Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus und um Entschädigung zu kämpfen. Zur Scham über die erlittene Verfolgung, die ja nicht nur homosexuelle Opfer oft verspürten, kam bei dieser Gruppe auch der Umstand verschärfend hinzu, dass sie auch weiterhin strafrechtliche Verfolgung und Gefängnis riskierten.

Schon sehr bald nach ihrer Gründung im Jahr 1979 begann die Homosexuelle Initiative (HOSI) Wien, der erste Lesben- und Schwulenverband Österreichs, sich für die Anerkennung der homosexuellen NS-Opfer einzusetzen. Doch der Widerstand der Politik und auch der (politischen) Opferverbände war groß und hinhaltend – und so sollten die Bemühungen der HOSI Wien ein Vierteljahrhundert dauern, bis 2005 endlich das Opferfürsorgegesetz um die Verfolgungskategorie „sexuelle Orientierung“ erweitert wurde – zu diesem Zeitpunkt gab es jedoch vermutlich keinen einzigen noch lebenden KZ-Überlebenden, der wegen seiner Homosexualität verfolgt worden war.

In den frühen 1980er Jahren war der Wissens- und Forschungsstand – speziell auch über das Ausmaß der Verfolgung homosexueller Männer (und Frauen) – sehr gering. Als die HOSI Wien mit ihrer Arbeit begann, geisterten Zahlen von bis zu 300.000 ermordeten Homosexuellen durch die Medien. Da hatte man offenbar einfach gerechnet, dass – wie in jeder Bevölkerungsgruppe – auch unter den sechs Millionen in den KZ-Lagern Ermordeten fünf Prozent homosexuell waren. Das stimmte sicherlich auch, aber natürlich kann man diese Zahl nicht mit der Zahl der ausdrücklich wegen ihrer Homosexualität in KZ-Lager verschleppten bzw. dort ermordeten Homosexuellen gleichsetzen. Aufgrund zahlreicher Studien und Forschungen, die seither unternommen wurden, weiß man heute, dass in Deutschland von 1933 bis 1945 rund 100.000 Männer wegen Homosexualität verhaftet und rund 50.000 auch verurteilt wurden. Zehn- bis fünfzehntausend Männer wurden in KZ-Lager eingewiesen, wo Schwule ganz unten in der Häftlingshierarchie standen und daher auch eine der geringsten Überlebensraten hatte. Man geht davon aus, dass rund 60 Prozent der in KZ verschleppten Homosexuellen, also 6000 bis 9000 Personen, dort auch umkamen.

Nimmt man an, dass die österreichische Bevölkerung rund ein Zehntel der deutschen ausmachte, kann man den Anteil der ermordeten homosexuellen Österreicher wohl auf 600 bis 900 schätzen. Von den wenigsten kennen wir heute die Namen. Und es wird auch nicht mehr möglich sein, die Namen aller Rosa-Winkel-Häftlinge jemals lückenlos zu rekonstruieren. Denn einerseits haben die Nazis viele Dokumente und Aufzeichnungen in den KZ-Lagern vor dem Zusammenbruch noch rasch vernichtet, und andererseits sind auch bei vielen Gerichten und Polizeidienststellen die Akten aus jener Zeit, aus denen die Verurteilungen und Überstellungen in KZ-Lager hervorgehen könnten, mittlerweile längst skartiert worden – weil man in den Behörden einfach keinen Platz mehr hatte und diesen Akten keine historische Bedeutung beimaß.

Der HOSI Wien ging es aber von Anfang an nicht nur um die persönliche Entschädigung der Opfer, sondern auch um deren kollektive Anerkennung. Und so war der HOSI Wien die Gedenkarbeit immer ein großes und sehr wichtiges Anliegen. Bereits 1984, nur fünf Jahre nach ihrer Gründung, enthüllte sie gemeinsam mit anderen Lesben- und Schwulengruppen den weltweit ersten Gedenkstein für die von den Nazis ermordeten Homosexuellen, und zwar an der Lagermauer des ehemaligen KZ Mauthausen. Die Inschrift auf diesem Gedenkstein – „Totgeschlagen – totgeschwiegen“ – sollte noch jahrelang nichts an Aktualität einbüßen. Seit dieser Zeit nimmt die HOSI Wien auch an den jährlich stattfindenden Befreiungsfeiern in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen teil. 2001 organisierte die HOSI Wien auf dem Heldenplatz eine vielbeachtete Ausstellung, „Aus dem Leben“ – Die nationalsozialistische Verfolgung der Homosexuellen in Wien 1938-45, die danach als virtuelle Ausstellung ins Internet gestellt wurde: www.ausdemleben.at.

Da es offenbar keine überlebenden homosexuellen KZ-Opfer in Österreich mehr gibt – und mit dem Schwinden der ZeitzeugInnen im allgemeinen –, wird das Gedenken im Sinne von „Erinnern für die Zukunft“ immer wichtiger, wobei das gleichnamige Bezirksprojekt beides vereint: namentliche Erwähnung verfolgter Person, wodurch die Zahlen Namen bekommen, und kollektives Gedenken im öffentlichen Raum, wodurch das erlittene Unrecht die Qualität des „bloß privaten“ Schicksals verliert. Für die HOSI Wien war es daher keine Frage, dieses Bezirksprojekt zu unterstützen, auch wenn ihr kein einziger in ein KZ deportierter Homosexueller aus Wien-Mariahilf namentlich bekannt ist. Überhaupt gestaltet sich die Suche nach Opfern aus dieser Gruppe aus den genannten Gründen schwierig, und sollten tatsächlich welche gefunden werden, muss mit allfällig vorhandenen Angehörigen und Verwandten wohl erst das Einvernehmen hergestellt werden, ob eine Anbringung eines Gedenkplättchens erwünscht ist, da man ja gegen den Willen der Familie den Verstorbenen nicht posthum als homosexuell „outen“ will, wobei natürlich auch festzuhalten ist, dass der spezifische Grund der Deportation auf der Messing-Gedenktafel nicht vermerkt wird. Der HOSI Wien geht es indes auch bei dieser Gedenkarbeit in erster Linie darum, das Bewusstsein für das totalitäre Unterdrückungssystem des Nationalsozialismus in all seinen Facetten – im Sinne des „Erinnerns für die Zukunft“ – zu schärfen, auch ohne konkrete Namen, um das „Nie wieder!“ in jeder Hinsicht – und vielleicht auch unter anderen Vorzeichen, als sie zur Nazi-Zeit bestanden – zu stärken.